Das Leben hat Denver Hollis hart getroffen. Mit nur 23 Jahren ist sie nichts als ein Schatten ihrer selbst – obdachlos, auf den Straßen New Yorks, in schäbigen Obdachlosenheimen und oft nur einen Schritt von der Verzweiflung entfernt. Doch das Schicksal scheint ihr plötzlich ein Geschenk zu machen: Durch einen unvorhergesehenen Zufall landet Denver als Assistentin beim charismatischen Staranwalt Callan Hawk.
Callan ist ein Mann, der alles hat: Macht, Erfolg und eine faszinierende Ausstrahlung, die selbst den stärksten Willen in Frage stellt. Denver kann der Anziehungskraft dieses Mannes nicht entkommen, obwohl sie alles daran setzt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Denn ihre Welt darf nicht von einer Leidenschaft erschüttert werden, denn sie will sich auf ihre Arbeit konzentrieren und ihr Leben in eine ruhige Bahn lenken.
Doch Callan will mehr – er will Denver. Er hat sie entdeckt, ihre dunkelsten Geheimnisse, ihre Ängste, ihre Verletzlichkeit, und er ist entschlossen, sie zu beschützen, sie zu erobern, sie zu seiner Frau zu machen. In ihm wächst ein Verlangen, das Denver nicht nur rettet, sondern auch in einen Strudel der Lust und Sehnsucht reißt.
Aber in einer Welt voller Geheimnisse und Verrat ist nichts sicher - denn Versprechen sind dazu da, um gebrochen zu werden. Callan, der alles zu haben scheint, hat Denver enttäuscht und verraten. Die zerbrechliche Liebe, die sie zu ihm empfand, droht in einem Moment der falschen Entscheidung zu zerbrechen.
Nun steht Denver vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: Soll sie Callan ihr gebrochenes Herz wieder anvertrauen und sich dem Mann hingeben, der sie zerstören könnte, oder wird sie der Versuchung widerstehen und den Schmerz des Verrats für immer in ihrer Seele tragen?
Crystal Daniels und Sandy Alvarez sind ein Schwestern-Duo und die USA Today-Bestsellerautorinnen der beliebten "Kings of Retribution MC"-Serie.
Seit 2017 hat das Duo zahlreiche Romane veröffentlicht. Ihre gemeinsame Leidenschaft für Bücher und das Geschichtenerzählen führte sie auf eine aufregende Reise,...
Crystal Daniels und Sandy Alvarez sind ein Schwestern-Duo und die USA Today-Bestsellerautorinnen der beliebten "Kings of Retribution MC"-Serie.
Seit 2017 hat das Duo zahlreiche Romane veröffentlicht. Ihre gemeinsame Leidenschaft für Bücher und das Geschichtenerzählen führte sie auf eine aufregende Reise,...
Denver
Der restliche Arbeitstag vergeht ohne erwähnenswerte Zwischenfälle. Spencer blieb etwa eine Stunde und zwinkerte mir beim Hinausgehen noch einmal über die Schulter zu. Ich konnte ihm nicht länger böse sein und winkte ihm zur Antwort kurz zu. In gewisser Hinsicht ist er wie Lucas: ein hoffnungsloser Flirter.
Jetzt ist es bereits vier Uhr, und ich bin gerade dabei, meinen Computer herunterzufahren, als Frances, gefolgt von Kelly, den Flur entlang auf mich zukommt. „Hi, Frances.“
„Hallo, meine Liebe. Machst du Feierabend?“
„Ja. Bist du auch schon fertig?“
„Allerdings. Sollen wir zusammen hinuntergehen?“
„Gerne. Ich schnappe mir nur noch kurz meinen Mantel,...
...dann können wir los.“ Ich lächle.
„Sie müssen länger bleiben, Miss Hollis“, ertönt da Mr. Hawks schroffe Stimme hinter mir.
Ich fahre herum. „Was?“
„Mrs. Dennis konnte sich nicht freinehmen und hat es deshalb nicht zu ihrem Termin um zwei Uhr geschafft. Ich habe sie gebeten, um fünf Uhr zu kommen.“
So viel wusste ich. Ich habe Mrs. Dennis’ Anruf heute Morgen angenommen und ihr mitgeteilt, dass Mr. Hawk sie um siebzehn Uhr erwarten würde. Dass ich bei diesem Termin dabei sein sollte, war mir jedoch nicht klar. „Sie hatten nicht erwähnt, dass ich länger bleiben soll.“
„Das tue ich hiermit, Miss Hollis.“
„Ich … ich kann nicht, Mr. Hawk.“
„Warum zum Teufel nicht? Sie sind meine Assistentin, das ist Ihr Job. Sie arbeiten also, wann ich es Ihnen sage.“
Was soll ich darauf antworten? Ich muss um vier Uhr gehen, damit ich mich rechtzeitig anstellen kann und im Obdachlosenheim ein Bett für die Nacht bekomme, bevor alle belegt sind?
Verdammt, Denver. Lass dir was einfallen.
Kelly ergreift das Wort. „Ich kann bei Ihnen bleiben, Mr. Hawk.“
Frances muss bemerkt haben, dass ich in der Klemme stecke, und versucht, mir zu helfen. „Na siehst du, Callan. Kelly ist bereit, für Denver einzuspringen. Das ist doch nett von ihr.“
Natürlich tut Kelly das nicht, um mir einen Gefallen zu tun, sondern weil sie um jeden Preis Mr. Hawks Aufmerksamkeit auf sich ziehen will.
„Nein. Kelly und Frances, ihr könnt gehen. Miss Hollis bleibt und macht ihren Job“, verkündet mein Boss und setzt der Debatte so ein Ende.
Das Treffen findet im Konferenzraum statt, wo wir mehr Platz haben, um die zahlreichen Dokumente für den bevorstehenden Prozess durchzugehen. Ich sitze mit übergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl und wippe nervös mit dem Fuß, während ich ständig auf die Uhr an der Wand schaue.
Mr. Hawk wirft mir einen Blick zu, den ich jedoch einfach ignoriere. Ich verstehe nicht, warum er mich gezwungen hat, hierzubleiben. Bislang hat er mich nie darum gebeten, länger zu bleiben. Weil er heute aber darauf bestanden hat, ein Arsch zu sein, werde ich die Nacht höchstwahrscheinlich auf der Straße verbringen. Es ist Viertel vor sieben, und ich habe nicht die geringste Chance, noch einen Schlafplatz im Asyl zu ergattern.
Zu allem Übel hat es vor einer Stunde angefangen, zu schneien. An solchen Tagen ist der Andrang größer, weil viele Leute Zuflucht vor den fallenden Temperaturen suchen. Während der letzten Monate habe ich oft im Freien geschlafen, bei so einem Wetter jedoch noch nie.
„Mrs. Dennis.“ Mein Boss erhebt sich. „Ich glaube, wir haben alles, was wir für den Prozess nächste Woche brauchen.“
„Denken Sie, das genügt?“
„Da bin ich mir sicher. Ich versichere Ihnen, dass Ihr Mann nicht davonkommt, ohne zu bezahlen.“
Mrs. Dennis schüttelt Mr. Hawk die Hand und streckt sie dann mir entgegen.
Ich erwidere ihre Geste mit einem höflichen Lächeln.
„Miss Hollis, ordnen Sie die Unterlagen und legen Sie sie bitte auf meinen Schreibtisch, während ich Mrs. Dennis hinausbegleite.“
Ich nicke und mache mich eilig daran, die Dokumente einzusammeln und in sein Büro zu bringen. Als Mr. Hawk zurückkommt, bin ich mit der einzigen Aufgabe, die er mir heute Abend aufgetragen hat, fertig. Hysterisch und stinksauer nehme ich meine Tasche, um das Gebäude zu verlassen.
„Ich begleite Sie“, verkündet er.
„Nein“, fahre ich ihn an und schlüpfe mit zitternden Händen in meinen Mantel.
„Gibt es ein Problem, Miss Hollis?“
„Ja. Sie haben mich völlig umsonst gezwungen, Überstunden zu machen. Dafür gab es überhaupt keinen Grund, Mr. Hawk“, zische ich mit zusammengebissenen Zähnen. „Außerdem haben Sie mich nicht im Voraus darüber informiert.“ Bei meinem letzten Satz kann ich ein würgendes Geräusch nicht länger unterdrücken.
„Was ist denn los, Miss Hollis? Haben Sie meinetwegen etwa ein Date mit diesem Idioten Lucas verpasst, oder was?“, faucht er giftig.
Ich lasse mich gar nicht erst dazu herab, ihm darauf zu antworten, und laufe einfach los. Als ich das Gebäude verlasse, ist Mr. Hawk nur wenige Schritte hinter mir. Auf dem Gehweg vor uns steht sein Wagen, der Chauffeur wartet bereits an der Hintertür.
„Jetzt komm schon, Denver“, sagt Mr. Hawk. „Ich fahre dich nach Hause.“
„Nein. Ich brauche nichts von Ihnen.“
„Kannst du wenigstens einen Moment aufhören, angepisst zu sein, und mein Angebot einfach annehmen?“
Ich drehe mich nicht um und antworte ihm nicht.
„Denver!“, ruft Callan mir hinterher. „Jetzt komm schon, steig ein!“
Ich gehe weiter und biege am Ende der Straße ab. Erst dann lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Ich hätte meinen Stolz hinunterschlucken und sein Angebot annehmen sollen. Doch das hätte bedeutet, mein Geheimnis preisgeben zu müssen, und das wollte ich nicht.
Stolz ist eine bewundernswerte Eigenschaft, kann eine Person jedoch auch zu Fall bringen. Ich befürchte, durch meinen Stolz eines Tages mehr zu verlieren, als ich mir vorstellen kann.
Genau wie erwartet, gibt es kein freies Bett mehr, als ich am Obdachlosenheim ankomme. Da ich nicht weiß, was ich jetzt tun soll, laufe ich einfach weiter, bis ich eine Straßenecke vom Asyl entfernt einen kleinen Durchgang zwischen einer Textilreinigung und einem Spirituosengeschäft entdecke. Darin steht, in etwa sechs Metern Entfernung, ein großer Müllcontainer, daneben liegt ein Haufen Kartons. Darüber hängt eine schmale Markise, die mich jedoch kaum vor dem Schnee schützen würde, wenn ich mich auf die Kartons setze. Ich muss einen anderen Platz für die Nacht finden.
In der 42nd Street, also zwei Blöcke weiter, steht eine Brücke, unter der Obdachlose zusammenkommen. Vermutlich wäre es das Beste, dorthin zu gehen.
Der weite Fußweg von der Arbeit bis hierher, noch dazu bei dieser Kälte, hat mich allerdings ziemlich mitgenommen. Meine Füße schmerzen und werden bereits taub, da ich keine Socken oder Strümpfe trage. Ich muss mich einen Moment ausruhen.
Nach einer Weile überkommt mich Müdigkeit und mein Körper wird träge, also beschließe ich, noch ein wenig länger sitzenzubleiben. Neben der Mülltonne zusammengekauert lehne ich mich an die Backsteinwand hinter mir. Mit zitternden Händen wühle ich in meiner Tasche, bis ich meinen Geldbeutel gefunden habe, und schaue hinein: fünfundsiebzig Dollar und ein paar Münzen. Nicht genug für ein Hotelzimmer.
Ich stopfe alles zurück in meinen Rucksack und drücke ihn an mich, während Schluchzer meinen Körper schütteln. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so hoffnungslos gefühlt und war so kurz vor dem Aufgeben wie jetzt. Ich hätte mit Callan reden sollen. Ich hätte mir helfen lassen sollen, anstatt meinen Stolz überhandnehmen zu lassen. Doch wenn man das ganze Leben lang auf sich selbst gestellt war, fällt es einem irgendwann sehr schwer, andere um Hilfe zu bitten. Denn das bedeutet unweigerlich, sich schämen zu müssen, und oftmals auch, die Verurteilung hinnehmen zu müssen, die mit dem Stigma der Obdachlosigkeit einhergeht.
Ich ziehe meine Beine an die Brust, lege mich hin und versuche, mich so klein wie möglich zu machen. Nur noch einen kurzen Moment ausruhen. Die betäubende Kälte wird langsam unerträglich, also tue ich, was ich am besten kann: Ich zähle. Bei dreitausend fange ich an, dann zähle ich mit klappernden Zähnen rückwärts. „Zweitausendneunhundertneunundneunzig, zweitausendneunhundertachtundneunzig …“ Ich verhasple mich mehrmals und beginne noch einmal von vorn.
Doch trotz meines Zählens kann ich nicht umhin, zu bemerken, dass die Temperaturen weiter fallen. Irgendwann werden meine Worte undeutlich, meine Gedanken verschwimmen und meine Lider werden schwer.
Die Zeit scheint stillzustehen, während ich langsam in den Schlaf sinke.
Als ich schwach die Stimmen von zwei Männern höre, nehme ich all meine Kraft zusammen, um die Augen zu öffnen, schaffe es jedoch nicht. Die beiden nähern sich.
„Hey, Ricky. Schau mal, was wir da haben.“
„Was denn, Henry?“
„Hey. Hey, du.“ Irgendjemand stupst mich grob an. „Was hast du da, Mädel?“
Ich spüre, wie jemand an meinem Rucksack zieht, den ich noch immer an meine Brust drücke. Ich stöhne auf und versuche, ihn festzuhalten, bin jedoch zu schwach. Meine Tasche wird mir aus den Händen gerissen.
„Ein hübsches Ding, meinst du nicht, Ricky?“ Kalte Fingerspitzen streifen mir über die Wange.
„Komm schon, Henry. Schnappen wir uns ihre Tasche und hauen wir ab, bevor uns jemand sieht.“
Ich vernehme ein leises Seufzen, dann antwortet die Stimme: „Du hast recht. Lass uns verschwinden.“
Das Geräusch von Schuhen, die knirschend über den frischen Schnee laufen, hallt zwischen den Mauern wider, während sich die Stimmen entfernen. Ich öffne die Augen einen Schlitz weit und erkenne am Ende der Gasse zwei Männer.
„Stopp!“, krächze ich, doch sie gehen einfach weiter, und kurz darauf lösen sich ihre Silhouetten in dem Dunst auf, in den ich versunken bin.
Ich versuche, aufzustehen, aber mein Körper verweigert mir seine Dienste. Einen Moment wird mir noch bewusst, dass bereits eine dünne Schneeschicht auf mir liegt und meine feuchten Haare in meinem Gesicht kleben, dann wird es Nacht.
Callan
Mit knirschenden Zähnen schaue ich Denver nach, die die Straße hinuntergeht, und ein ungutes Gefühl breitet sich in mir aus. Ihr plötzlich wütender Ton und die Art, wie sie mich angefahren hat, sieht ihr gar nicht ähnlich.
Zugegeben, sie hat recht. Es gab keinen Grund dafür, sie bleiben zu lassen. Aber ich habe nun mal dieses wahnsinnige Bedürfnis, Denver in meiner Nähe zu haben. Diese Frau geht mir wirklich unter die Haut, und ich bin machtlos gegen das Verlangen, sie immer und überall bei mir haben zu wollen. Es kostet mich alle Kraft, sie nicht jedes Mal, wenn ich sie sehe, zu berühren, zu küssen und gegen die Wand meines Büros zu vögeln.
Meine Entscheidungen folgen keiner Logik, sie sind absolut selbstsüchtig. Ich weiß, dass Lucas ein Auge auf Denver geworfen hat, deshalb musste ich einschreiten und seine Pläne zerschlagen, sie um ein Date zu bitten. Das ist auch der einzige Grund, warum ich mich heute Nachmittag wie ein noch größerer Arsch aufgeführt und ihr praktisch befohlen habe, bei meinem Termin anwesend zu sein. Als Denver darauf bestanden hat, dass sie nicht länger bleiben kann, habe ich rotgesehen. Ich wurde grün vor Neid. Aber irgendetwas an der Art, wie sie mich behandelt hat und unter Tränen davongestürmt ist, kommt mir merkwürdig vor. Es war nie meine Absicht, sie zu verärgern. Es muss mehr dahinterstecken. Und ich werde herausfinden, was das ist.
Noch immer stehe ich auf dem Gehweg in der Kälte, der Schnee sammelt sich auf meinen Schultern. Ich schaue zu Mitch, der geduldig, aber mit besorgtem Blick neben dem Wagen steht und auf die mittlerweile menschenleere Straße starrt.
„Finde sie“, weise ich ihn an, steige auf die Rückbank und werfe die Tür hinter mir zu.
„Ja, Sir.“ Mitch eilt um die Motorhaube herum und steigt auf der Fahrerseite ein. Er wirft einen kurzen Blick in den Rückspiegel, macht dann einen U-Turn und fährt in die Richtung, in die Denver gegangen ist.
„Verdammt, sie ist verschwunden. Kannst du sie irgendwo sehen, Mitch?“
Der Chauffeur wird langsamer, während ich das Fenster herunterlasse. „Nein, Sir. Keine Spur von ihr.“
Ich hole mein Handy aus der Tasche und suche darin Denvers Kontaktdaten. Noch an ihrem ersten Arbeitstag habe ich mir ihre Unterlagen zugemailt. „Bring mich in die West Chapel Road 8279“, weise ich Mitch an.
Zwanzig Minuten später halten wir vor einem heruntergekommenen Wohngebäude in einem zwielichtigen Viertel. Beim Gedanken daran, dass Denver an so einem Ort lebt, steigt Wut in mir auf.
Hastig öffne ich die Autotür, steige aus und renne die Stufen zum Gebäudeeingang hoch. Mitch folgt mir dicht auf den Fersen. Er ist ein großartiger Mann, der mir garantiert den Rücken stärken wird, sollte es Probleme geben.
Ich ignoriere die betrunkenen Typen, die im Flur herumlungern, und gehe in den dritten Stock. Vor der Wohnung Nummer 59 bleibe ich stehen, balle die Hand zur Faust und klopfe kräftig an der Tür. Ohne abzuwarten, hämmere ich ungeduldig erneut daran, dieses Mal noch etwas lauter.
Eine schroffe männliche Stimme ertönt dahinter, und meine bereits miese Stimmung wird nahezu mörderisch. „Jetzt wart halt eine Sekunde, verdammt. Ich komm ja schon.“ Die Tür wird aufgerissen und vor uns taucht ein dicklicher Mann mit fettigen Haaren und einer Zigarette im Mundwinkel auf. „Was zum Teufel wollt ihr?“
„Ich suche nach Denver.“
„Wer ist Denver?“, nuschelt er, und ich sehe, wie durch die Bewegung Asche auf sein T-Shirt rieselt.
„Die junge Frau, die hier wohnt“, knurre ich und mache einen Schritt vor, bereit, ihm eine reinzuhauen.
„Hör mal, du Arschloch. Hier wohnt keine Denver.“
Ich trete noch näher. „Bist du dir da sicher?“
Der Mann muss den Kopf in den Nacken legen, um mir in die Augen zu sehen. „Glaub mir, wenn eine Bitch namens Denver bei mir wohnen würde, wüsste ich das.“
Als ich das Wort „Bitch“ höre, mache ich einen Satz nach vorn, doch Mitch hält mich rechtzeitig zurück. „Das ist er nicht wert, Boss.“
„Du tust besser, was dein Kumpel sagt, du Lackaffe. Hier gibt es niemanden, der es wert wäre, dass du dir den Arsch aufreißt“, spottet der Wichser grinsend.
Meine Faust landet auf seiner Nase, die unter meinen Knöcheln knirscht. Das selbstgefällige Grinsen ist aus seinem Gesicht verschwunden, als er auf dem Boden zusammensackt.
„Lass uns verschwinden, Boss, bevor jemand die Polizei ruft.“ Ich leiste keinen Widerstand, als Mitch mich hinter sich herzieht. Sobald wir im Auto sind, sieht er mich im Rückspiegel an. „Wir werden sie finden.“
Stundenlang fahren wir durch die Stadt und suchen nach Denver. Das Wetter hat sich verschlechtert, und mittlerweile schneit es heftig. Wohin ist sie nur gegangen? Und warum hat sie falsche Kontaktdaten angegeben? Ein Ex vielleicht? Könnte es sein, dass sie sich vor einem Mann versteckt? Oder ist sie womöglich mit dem Gesetz in Konflikt geraten?
Alle Szenarien, die vor meinem inneren Auge aufblitzen, sind negativ, doch mir fällt einfach kein anderer Grund ein. Ich starre aus dem Fenster und versuche, irgendeinen Hinweis zu entdecken, der uns zu ihr führt.
Zwei Männer, die aus einer Gasse gelaufen kommen, erregen meine Aufmerksamkeit, und ich blicke ihnen nach. Der Gegenstand, den einer der Männer in der Hand hält, blitzt kurz im Licht einer Straßenlaterne auf. Ich schaue genauer hin. Moment mal! Den herzförmigen Schlüsselanhänger an diesem Rucksack kenne ich.
„Anhalten!“ Ich stoße die Tür auf. „Hey!“, schreie ich, während ich die Männer durch den Matsch und Schnee verfolge. „Hey, ihr da!“
Der Mann mit dem Rucksack fängt an, zu rennen, aber auch ich lege einen Zahn zu. Er entwischt mir zwar und verschwindet um die Ecke, den anderen bekomme ich jedoch zu fassen und werfe ihn zu Boden.
„Was soll der Scheiß? Lass mich los!“
„Wo zum Teufel hat dein Kumpel die Tasche her?“ Ich packe ihn an seiner Jacke und schüttle ihn.
„Du kannst mich mal“, schleudert er mir ins Gesicht.
Ich höre, wie Mitch neben uns vorfährt und die Autotür öffnet. „Soll ich die Polizei rufen?“, erkundigt er sich.
„Nein, nein, bitte nicht.“ Der Mann windet sich. „Keine Bullen.“
Ich sehe auf ihn herab. „Wo hat dein Freund diesen Rucksack her?“, frage ich ihn ein letztes Mal.
„Wir haben ihn irgendeiner rothaarigen Pennerin weggenommen. In der Gasse da hinten“, jault er und zeigt die Straße hinunter. Mein Blick folgt seiner Hand. Denver?
Ich lasse ihn los und springe auf. Ohne eine weitere Sekunde auf dieses Stück Scheiße zu verwenden, renne ich den Gehweg entlang und in die Gasse. Als sich meine Augen endlich an die Dunkelheit gewöhnt haben, entdecke ich eine Gestalt, die sich zwischen einem Müllcontainer und einer Mauer zusammenkauert. Während ich mich ihr nähere, erblicke ich ihre langen, roten Haare.
„Scheiße.“ Das Herz rutscht mir in die Hose.
Denver
Plötzlich höre ich quietschende Reifen und Schritte, die sich mir nähern. Dann beugt sich jemand schwer atmend über meinen eiskalten Körper und stößt eine Tirade an Schimpfwörtern aus. „Verdammte Dreckskerle.“
Diese Stimme kenne ich.
Zwei kräftige Hände schieben sich unter meine Beine und hinter meinen Rücken und heben mich vom Boden hoch. Als ich die Wange an etwas Weiches und zugleich Hartes lehne, durchströmt mich wohlige Wärme. Auch der Geruch ist mir bekannt. Das Gesicht an den warmen Hals geschmiegt, nehme ich einen tiefen Atemzug. Ich verliere mich in dem vertrauten Duft, meine Nerven beruhigen sich sofort, und ich fühle mich sicher und geborgen.
„Geht es ihr gut, Mr. Hawk? Soll ich Sie ins Krankenhaus fahren?“
„Nein, schon in Ordnung. Bitte bring uns nach Hause, Mitch. Und rufe Dr. Morgan an, er soll schnellstmöglich in mein Penthouse kommen.“
Ich höre, wie eine Autotür zufällt, lege den Kopf zurück und öffne die Augen. Grüne Augen, die mich eingehend mustern, erwidern meinen Blick.
„Callan.“ Mühselig bringe ich seinen Namen über die Lippen, während ich gegen den Schlaf ankämpfe.
„Du bist in Sicherheit, Baby.“
Das sind die letzten Worte, die ich vernehme, bevor ich in tiefe Finsternis stürze.
***
Als ich aufwache, fühle ich mich wohl. Mir ist warm und ich bin in die weichste Decke der Welt eingekuschelt. Stöhnend vergrabe ich das Gesicht im Kissen und sauge den frischen, sauberen Duft in mich auf.
Es dauert ein paar Sekunden, bis meine Sinne richtig funktionieren.
Diese Bettwäsche ist viel zu weich. Die im Obdachlosenheim hat sich nie so gut angefühlt.
Mit einem Ruck richte ich mich auf. Die Bettdecke fällt mir auf die Hüften, und ich schnappe nach Luft, als ich bemerke, dass meine Brüste nackt sind. Schnell ziehe ich die Decke hoch, um mich zu bedecken. Dann sehe ich mich in dem mir unbekannten Raum um.
Das Schlafzimmer, in dem ich mich gerade befinde, ist riesig. Zu meiner Rechten reichen Fenster vom Boden bis zur Decke. Draußen scheint der Mond, dessen Licht den Raum erhellt und den grauen Wänden einen warmen Glanz verleiht.
Ich lasse den Blick weiter durch das Zimmer schweifen und fahre herum, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme. Beim Anblick der schattenhaften Figur, die in einer entfernten Ecke auf einem Stuhl sitzt, entfährt mir ein Schrei. Ich lege die Hand auf die Brust und atme tief ein, doch dann wird mir bewusst, dass das Mr. Hawk ist.
Plötzlich strömen Erinnerungen auf mich ein. Die Gasse. Die eisige Kälte. Die zwei Männer, die meinen Rucksack mit all meinen Habseligkeiten gestohlen haben – mit meinem Ausweis, meiner Kleidung und dem wenigen Geld, das ich hatte. Zum Schluss erinnere ich mich auch daran, von Mr. Hawk hochgehoben worden zu sein. „Was geht hier vor sich? Was mache ich hier, und wessen Bett ist das?“
„Ich habe dich hierhergebracht. Du bist in meinem Zuhause, und das ist mein Bett.“ Mr. Hawks Stimme ist unheimlich ruhig, während er einen Schluck von der dunklen Flüssigkeit aus dem Glas nimmt, das er in der Hand hält.
Zitternd hole ich Luft und stelle die nächste Frage. „Warum bin ich nackt?“
„Ich habe dich ausgezogen“, gibt er zurück.
„Mr. Hawk …“
„Callan“, unterbricht er mich. „Ich möchte, dass du mich bei meinem Vornamen nennst.“
Ich wickle mich fester in die Bettdecke ein und schlucke. „Wo sind meine Klamotten, Callan?“
„Die habe ich weggeworfen.“
„Warum?“, rufe ich. „Und warum hast du mich überhaupt ausgezogen?“
„Das habe ich getan, weil du kurz davor warst, eine Unterkühlung zu erleiden. Und dann habe ich deine Kleidung in den Müll geworfen, weil sie genau dort hingehören. Keine Sorge, ich werde dir neue kaufen“, sagt er und hebt gereizt die Stimme, als ob ich diese Fragen nicht stellen sollte.
„Das waren die einzigen Klamotten, die ich hatte, Callan. Du hattest kein Recht, sie einfach wegzuschmeißen!“
Callan steht auf und wirft das Glas durch den Raum. Es zerspringt an der Wand und landet in unzähligen Scherben auf dem Holzboden seines Schlafzimmers.
„Ich hatte alles Recht der Welt!“, widerspricht er mit dröhnender Stimme und bebender Brust und fordert dann: „Sag es mir!“ Er kommt einen Schritt in meine Richtung.
„Was denn?“ Ich versuche, mich angesichts seiner drohenden Präsenz nicht einschüchtern zu lassen und nicht zusammenzuschrumpfen.
„Sag mir, warum ich dich halb erfroren auf der Straße gefunden habe.“
„Ich … ich glaube, das weißt du mittlerweile selbst.“
„Ich will es aus deinem Mund hören, Denver. Hör auf, dich zu verstecken.“
Tränen fangen an, mir über die Wangen zu strömen, und es schüttelt mich.
„Warum, Denver?“
„Weil es keinen anderen Ort gab, an den ich gehen konnte!“, schluchze ich. „Weil ich obdachlos bin und im Obdachlosenheim kein Bett mehr frei war. Darum habe ich in dieser Gasse geschlafen. Darum habe ich mich gewehrt, als du wolltest, dass ich länger auf der Arbeit bleibe. Ich wusste, dass ich dann kein Bett für die Nacht mehr bekommen würde. Wenn du mich wie immer hättest gehen lassen, wäre nichts von all dem passiert. Ich brauche deine Almosen nicht. Ich gehöre nicht hierher.“
„Doch, genau das tust du.“ Callan kommt noch einen Schritt auf mich zu. „Das Obdachlosenheim ist kein Ort für dich. Und eine Wand zwischen einem Container und einem Haufen Müll ist es erst recht nicht, Denver, verdammt.“
„Warum machst du das, Callan? Du bist mein Boss, und ich bin mir sicher, dass du mich die meiste Zeit nicht einmal leiden kannst. Und mit einem Mal sorgst du dich um mich? Du folgst mir, bringst mich zu dir nach Hause und entkleidest mich.“ Verzweifelt ziehe ich mir an den Haaren. „Mein Gott! Es gibt nicht genug Worte, um zu beschreiben, wie krank diese Situation ist. Ich meine, ich bin nackt aufgewacht. Im Bett meines Bosses.“
„Wie ich schon gesagt habe: Du bist genau dort, wo du hingehörst.“ Callan überwindet den Abstand zwischen uns und beugt sich vor, sodass sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt ist. „Und ich kann dich sehr wohl leiden, Denver.“
Callans Atem riecht nach Whiskey, und ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. Je länger er mich ansieht, desto weniger bleibt von meiner Wut übrig. Seine Nasenflügel blähen sich, und für eine Sekunde glaube ich, dass er mich gleich küssen wird. Ich will es. Ich sehne mich so sehr danach, seine Lippen auf meinen zu spüren, dass ich die Luft anhalte. Doch er tut es nicht.
Enttäuschung breitet sich in mir aus, als er zurückweicht und auf Distanz geht. Sofort vermisse ich seine Wärme. Irgendwie fühle ich mich bei diesem Mann in Sicherheit und zu Hause. Er bringt mich auf die Palme, und gleichzeitig ertappe ich mich dabei, wie es mich Tag für Tag mehr nach ihm verlangt.
Mit Logik lässt sich dieses Gefühl nicht erklären, denn schließlich kennen wir uns kaum. Der einzige Callan, den ich kenne, ist der schroffe Arsch, für den ich arbeite. Aber dieser Callan … nun ja, auf eine gewisse Art ist er noch immer ein Arsch, doch gleichzeitig ist er so merkwürdig besitzergreifend und macht sich große Sorgen um mein Wohlbefinden. Diese Seite von ihm verdreht mir den Kopf, und mein Bauch schlägt Purzelbäume. Es wäre gelogen, zu behaupten, dass mir das nicht gefällt.
„Warum nimmst du nicht ein heißes Bad? Ich habe Shampoo, Conditioner und Lotion für dich organisiert.“ Callan macht mit dem Kinn eine Geste in Richtung der Tür, die sich hinter ihm befindet. „Außerdem habe ich ein paar Kleidungsstücke bringen lassen. Du findest sie im Schrank.“
Wie lange habe ich denn geschlafen?
„Wenn du soweit bist, sollte auch das Abendessen schon fertig sein.“
Mit diesen Worten dreht Callan sich um, verlässt das Schlafzimmer und schließt die Tür hinter sich. Ich bin noch verwirrter, als ich es gerade eben schon war.
Ich werfe die Bettdecke zur Seite und steige aus dem bequemsten Bett, in dem ich je geschlafen habe. Dabei kommt mir ein Gedanke, bei dem mir übel wird, und ich verziehe angewidert die Lippen. Wie oft hatte er wohl genau hier Sex mit Joslyn? Wütend haue ich mit der Faust auf die Matratze, doch dann blende ich diese Vorstellung aus und gehe in das angrenzende Badezimmer.
Als ich das Licht anknipse und sehe, wie riesig es ist, reiße ich überrascht die Augen auf. Es ist beinahe so groß wie das Schlafzimmer selbst. Allein die Badewanne ist ein Traum. In einem Regal stehen zahlreiche Cremes, Seifen, Schaumbäder, Shampoos und Pflegespülungen, außerdem entdecke ich Rasierklingen und eine ungeöffnete Packung Zahnbürsten.
Völlig überwältigt nehme ich ein Schaumbad mit Honig-Lavendel-Duft in die Hand, öffne den Deckel und halte mir die Flasche an die Nase. Wir haben einen Gewinner!
Auf dem Weg zur Badewanne fällt mein Blick aus dem Augenwinkel auf meinen nackten Körper, der sich in dem großen Spiegel an der Wand neben der Dusche spiegelt. Ich drehe mich um und betrachte mich eingehend. Meine Haare sind ein verknotetes Chaos, in dem sich der Zopf nur noch erahnen lässt. Als ich das Haargummi herausnehme, fallen mir die langen roten Haare in sanften Wellen bis auf die Hüften.
Ich beschließe, sie gründlich zu waschen, und springe deshalb kurz unter die Dusche, bevor ich mich in der Wanne entspanne. Ich lasse das Schaumbad einlaufen, während ich den Schmutz und sechs Monate Stress von meiner Haut schrubbe. Sobald ich damit fertig bin, trete ich aus der Dusche und lasse mich stöhnend in das heiße Wasser sinken, das sich einfach großartig anfühlt. Es ist Ewigkeiten her, seit ich das letzte Mal den Luxus eines Bads genossen habe.
Ich weiß nicht, wie lange ich inmitten der duftenden Schaumblasen verweile, doch ich komme erst heraus, als das Wasser kühl wird. Ich wickle mir ein Handtuch um den Körper, gehe zurück zu dem Regal und benutze den Föhn, den ich vorhin entdeckt habe. Nachdem meine Haare schließlich trocken sind, sehen sie zum ersten Mal seit langer Zeit glänzend und voll aus. Danach creme ich mich von Kopf bis Fuß sorgfältig ein.
Ich verlasse das Bad und laufe zu Callans begehbarem Kleiderschrank, in dem er Klamotten für mich bereitgelegt hat. Ich öffne die Flügeltüren, und als ich ihn betrete, wird irgendein Sensor aktiviert und die Regalbeleuchtung geht an.
„Ach du Scheiße“, keuche ich.
Auf der einen Seite hängt eine Reihe ordentlich gebügelter Anzüge. An der hinteren Wand befindet sich ein bestens organisierter Schuhschrank, und auf einem Tischchen in der Mitte liegen mehrere Paare Manschetten und Uhren. Links von mir entdecke ich Kleidungsstücke für Frauen, an denen noch das Etikett baumelt. Ein roter Pulli erregt meine Aufmerksamkeit; ich drehe das Schild um und suche den Preis. Als ich ihn finde, fallen mir beinahe die Augen aus dem Kopf.
„Dreihundert Dollar! Für einen Pulli?“ Dieser Mann ist nicht ganz bei Sinnen. Kopfschüttelnd sehe ich den ordentlichen Kleiderstapel unter dem Pulli durch und entdecke eine weiße Satin-Schlafanzughose mit passendem Spaghetti-Oberteil und einen weißen Morgenmantel, der ebenfalls aus Satin ist. Suchend blicke ich mich nach Unterwäsche um, denn ohne gehe ich keinesfalls da raus. Ich öffne eine der Schubladen vor mir und werde tatsächlich fündig. Dort liegen mindestens ein Dutzend BHs und Slips, alle in meiner Größe.
Woher weiß er meine Größe?
Bei dem Gedanken daran werde ich rot. Callan hat zugegeben, mich ausgezogen zu haben. Er hat nicht nur meine fadenscheinige Unterwäsche freigelegt, er war auch der erste Mann überhaupt, der mich nackt gesehen hat. Einen Moment lang frage ich mich, was ihm wohl durch den Kopf gegangen sein mag, als meine intimsten Stellen bloß vor ihm lagen.
Ich unterbreche meine Grübelei und streife mir das Satin-Oberteil über den Kopf. Der Stoff fühlt sich an meinem heißen Körper kühl an und schmiegt sich wie weiche Butter an meine Haut. Dann ziehe ich ein weißes Spitzenhöschen und die Schlafanzughose an. Da meine Nippel sich deutlich unter dem zarten Stoff abzeichnen, hülle ich mich außerdem in den Morgenmantel, um sie so gut wie möglich zu verbergen.
Als ich soweit bin, meldet sich mein Magen laut knurrend zu Wort. Callan meinte, dass das Abendessen bald fertig sein würde, und das klingt sehr verlockend. Doch mit einem Mal flattern mir die Nerven, und es widerstrebt mir, den Raum zu verlassen. Ich bin mir nicht sicher, was mich hinter der Schlafzimmertür erwartet. Seit ich in seinem Bett aufgewacht bin, fühle ich mich nicht in meinem Element. Ich bin verwirrt und frage mich, worauf Callan es abgesehen hat. Er meinte, dass ich hierher gehöre, aber was soll das bloß heißen? Hat er etwa vor, mir heute zu helfen und mich dann morgen wieder fortzuschicken?
Ich seufze. „Jetzt geh schon raus und steh deine Frau, Denver. Sei kein Angsthase.“
Der Duft von chinesischem Essen schwebt in der Luft und mein Magen knurrt erneut, also verlasse ich das Schlafzimmer und trete in den Flur. Am anderen Ende schimmert schwaches Licht, weshalb ich in diese Richtung gehe. Doch beim Anblick von Callan, der sich in der Küche zu schaffen macht, bleibe ich abrupt stehen.
Er hat sich umgezogen und trägt nun anstelle seines üblichen Anzugs eine abgetragene Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Als er mich bemerkt, ruft er mich.
„Komm her, Denver.“ Beim sanften Ton seiner Stimme erschaudere ich. „Bitte setz dich.“
Er weist mit dem Kinn auf den Hocker an der Kücheninsel und lässt mich keine Sekunde aus den Augen, während ich auf ihn zugehe. Der Blick seiner grünen Augen wandert langsam meinen Körper hinab. Aufgrund der Intensität, mit der er mich anstarrt, kommen mir meine Überlegungen von vorhin erneut in den Sinn. Der Mann vor mir hat meinen Intimbereich gesehen. Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er dasselbe denkt.
Ich nehme auf dem Hocker Platz und schweige, während Callan Reis und Hühnchen auf zwei Teller schöpft. Ich wippe mit dem Fuß und ringe die Hände im Schoß, um meine Nerven zu beruhigen.
„Entspann dich, Baby“, sagt Callan sanft.
„Ich … ich kann nicht.“
„Warum nicht?“, hakt er nach, die Aufmerksamkeit weiter auf das Essen vor ihm gerichtet.
Sprudelnd bricht aus mir hervor, was mir in dem Moment durch den Kopf geht. „Du hast mich splitternackt gesehen!“ Beschämt presse ich mir die Hand auf den Mund, und meine Wangen werden rot.
„Entweder ich oder Dr. Morgan“, knurrt er. „Und niemals hätte ich zugelassen, dass dich ein anderer Mann sieht.“ Callan zuckt mit den Schultern. Sein Geständnis verwirrt mich. Er stellt einen Teller vor mich hin und zeigt darauf. „Iss.“
Ich erwäge, ihm zu widersprechen, weil mir seine herrische Art gewaltig auf die Nerven geht, doch mein knurrender Magen hat offenbar eine andere Entscheidung getroffen.
Wortlos nehmen wir unsere Mahlzeit ein. Irgendwann kommt jedoch eine Frage in mir auf, die ich ihm stellen muss. „Callan, da du meine Klamotten weggeworfen hast, wäre es in Ordnung, dass ich einige der Kleidungsstücke aus dem Schrank mitnehme, wenn ich gehe? Ich kann sie dir mit meinem nächsten Gehalt zurückbezahlen.“
Callan knirscht mit den Zähnen. „Du kannst alles haben. Ich habe sie extra für dich gekauft. Aber du wirst nicht gehen, Denver. Du bleibst hier.“
Ich verschlucke mich an dem Reis, den ich mir soeben in den Mund geschoben habe. „Was? Ich soll … hier wohnen?“
„War ich nicht deutlich genug, als ich dir vorhin gesagt habe, dass du hierhergehörst?“
„Ähm … nein, nicht wirklich Callan. Anscheinend bist du nicht sonderlich gut darin, auf Details einzugehen. Aber ich kann nicht bei dir wohnen. Erstens brauche ich deine Mildtätigkeit nicht. Und zweitens, was würde Joslyn von meiner Anwesenheit halten?“
„Meine Entscheidungen gehen Joslyn nichts an.“
Callans Antwort macht mich wütend. „Du willst deiner Freundin also nicht sagen, dass eine andere Frau bei dir eingezogen ist? Bin ich etwa dein schmutziges Geheimnis, oder was? Die erbärmliche obdachlose Frau, die für dich arbeitet und auf deine Barmherzigkeit angewiesen ist? Lass mich mal etwas klarstellen, Callan Hawk: Ich brauche deine Hilfe nicht, und ich weigere mich, vor deiner Freundin geheim gehalten zu werden. Es mag sein, dass mir diese Frau nicht sympathisch ist, aber ich bin niemand, der fremde Beziehungen zerstört“, lasse ich ihn vor Wut schäumend wissen.
„Erstens.“ Callan geht um die Kücheninsel herum und dreht den Hocker, auf dem ich sitze, bis wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber sind. „Wenn ich dich je wieder dabei ertappe, wie du solchen Mist über dich selbst sagst, werde ich dich übers Knie legen. Du bist nicht erbärmlich, und schon gar nicht mein schmutziges Geheimnis. Zweitens ist Joslyn nicht meine Freundin und war es auch noch nie. Sie war bloß jemand, mit dem ich mir die Zeit vertrieben habe. All das war vorbei, als du das erste Mal in mein Büro gekommen bist.“
Bei seinem Geständnis zucke ich zusammen. „Was meinst du damit? Wenn mich nicht alles täuscht, ist sie mehrmals vorbeigekommen, seit ich für dich arbeite. Außerdem hat sie es offenbar sehr genossen, mir gegenüber bissige Bemerkungen zu machen, während du gelassen hinter deinem Schreibtisch gesessen und keinen Finger gerührt hast.“ Ich bemühe mich nicht, den Schmerz in meiner Stimme zu verbergen.
„Ich habe die Sache mit Joslyn auf der Stelle beendet, nachdem sie diese Kommentare gemacht hatte, und ihr verkündet, dass ich sie nie wieder sehen will. An dem Tag ist sie nicht gekommen, weil ich sie eingeladen hatte, sondern weil sie sich nicht eingestehen wollte, dass ich sie abserviert habe. Joslyn ist eine Opportunistin. Sie glaubt, ich wüsste nicht, warum sie an meiner Seite war, aber ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Über vier Jahre – mit mehreren Unterbrechungen – war Joslyn Teil meines Lebens, und sie war immer sauer, weil ich unsere Beziehung nie definieren wollte und ihr den Status verweigert habe, nach dem sie sich so sehr gesehnt hat.“
Mir fehlen die Worte, also schweige ich und versuche, zu verstehen, was Callan mir gerade eröffnet hat.
„Ich bin kein Mann, der feste Beziehungen führt, Denver. Zumindest war ich das bis jetzt nicht. Doch das wird sich bald ändern.“ Callan macht eine Pause, hebt mein Kinn mit dem Finger und zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. „Verstehst du, was ich damit meine, Baby?“
Ich schüttle den Kopf. Mein Herz rast wie wild, und der Kloß in meinem Hals lässt mich kaum Luft bekommen.
„Du kannst die Anziehungskraft zwischen uns nicht leugnen, Denver. Sie ist seit dem ersten Tag da. Ich kann sie spüren und weiß, dass auch du das tust. Ich sage dir, wir werden nicht länger dagegen ankämpfen“, versichert er mir und drückt seinen Mund auf meinen.
Anfangs ist Callans Kuss sanft und weich. Als er mit der Zunge über den Saum meiner Lippen fährt, öffne ich sie. In dem Moment, in dem unsere Zungen sich berühren, stöhne ich auf, und unsere Körper verschmelzen miteinander. Er legt die Arme um meine Taille, greift nach meinen langen Haaren und zieht daran, sodass ich den Kopf in den Nacken legen muss. Er beherrscht meinen Mund.
Schnell verwandelt sich der Kuss in etwas anderes, weitaus Mächtigeres. Ich packe Callans T-Shirt und ziehe seinen heißen Körper begierig an mich. Wir sind eng aneinandergedrängt, sodass ich deutlich sein steifes Glied an meinem Unterleib spüre, und es ist offensichtlich, dass unser Kuss auch ihn nicht kaltlässt.
Callan löst den Griff aus meinen Haaren und nimmt mein Gesicht in beide Hände. Als ich die Augen öffne, versinke ich in seinem intensiven, moosgrünen Blick.
„Verstehst du jetzt, Denver?“
„Ich denke schon.“