Pittsburgh Titans: Stone

Originaltitel: Stone: A Pittsburgh Titans Novel
Übersetzer: Joy Fraser

Erschienen: 04/2023
Serie: Pittsburgh Titans
Teil der Serie: 2

Genre: Contemporary Romance, Sport Romance

Location: USA, Pittsburgh




Preis:
Print: 16,90 €[D]
ebook: 6,99 €[D]

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Pittsburgh Titans: Stone


Inhaltsangabe

Minor-League-Spieler Stone Dumelin verlor seinen jüngeren Bruder, als das Mannschaftsflugzeug der Titans abstürzte. Mit dem darauffolgenden Anruf hatte er nicht gerechnet.

Nachdem eine Schulterverletzung meine NHL-Karriere auf Eis gelegt hatte, habe ich mich damit abgefunden, dass ich mich nie wieder aus der unteren Liga nach oben spielen kann. Während meine Karriere den Bach runterging, wurde mein mir entfremdeter Bruder Brooks zum Superstar bei den Pittsburgh Titans. Als das Flugzeug der Titans abstürzte, erlosch Brooks' Licht - und ich bekam die Chance meines Lebens.

Jetzt bin ich in Pittsburgh, spiele für die Titans und stehe dem Geist meines toten Bruders auf Schritt und Tritt gegenüber. Sein Schließfach, sein Vermächtnis, seine hartnäckige und hinreißende Anwältin, die nicht aufhört, mich wegen seines Nachlasses zu kontaktieren, obwohl ich sie gebeten habe, mich in Ruhe zu lassen.

Harlow Alston wäre äußerst ansprechend, wenn sie nicht so nervtötend wäre. So sehr ich mir wünsche, dass sie aufhört, mich wegen Brooks’ Nachlass zu belästigen, bin ich fasziniert von der feurigen Rothaarigen, die kein Nein als Antwort akzeptiert. Und je mehr ich über Harlow erfahre, desto mehr glaube ich, dass sie der Schlüssel sein könnte, um zu verstehen, wer Brooks wirklich war und wer ich sein möchte.

Ich habe eine zweite Chance auf eine Karriere, von der ich dachte, ich hätte sie verloren, und die Möglichkeit, mit Harlow etwas Gemeinsames aufzubauen. Aber kann ich die Kraft finden, weiterzumachen, oder wird meine Vergangenheit meine Zukunft bestimmen?

Über die Autorin

Seit ihrem Debütroman im Jahr 2013 hat Sawyer Bennett zahlreiche Bücher von New Adult bis Erotic Romance veröffentlicht und es wiederholt auf die Bestsellerlisten der New York Times und USA Today geschafft.
Sawyer nutzt ihre Erfahrungen als ehemalige Strafverteidigerin in...

Weitere Teile der Pittsburgh Titans Serie

Leseprobe

 Stone

Gemessen an der äußeren Erscheinung des Gebäudes ist die Kanzlei von Harlow Alston nicht das, was ich erwartet habe. Sie befindet sich in West Allegheny in einem viktorianischen Reihenhaus in einer baumreichen Allee. Auf ihrer Webseite ist ein schickes Chrom- und Glas-Büro zu sehen, von dem aus man die Stadt überblickt. Vielleicht ist sie umgezogen. Jedenfalls habe ich der kühlen älteren Frau auf dem Foto kein so informelles, nettes Büro zugetraut.
Sofort finde ich einen Parkplatz an der Straße, schließe meine Jacke und steige aus dem Auto. Der Wind fährt mir in die Knochen. Auch wenn der Frühling schon vor...

...der Tür steht, fühlt es sich heute ganz sicher nicht so an. Der Himmel ist grau, und dunkle Wolken brauen sich zusammen. Ich sollte mir den Wetterbericht ansehen, um herauszufinden, ob wir Regen oder Schnee bekommen werden.
Ein Messingschild hängt über der schwarzen Haustür des roten viktorianischen Hauses, das Ms. Alston als Büro dient. Es steht nur ihr Name darauf. Als ich eintrete, befinde ich mich in einem kleinen Foyer, und eine Treppe führt nach oben, die mit einem lila Seil abgesperrt ist.
Links befindet sich noch eine schwarze Tür. Das muss das Büro sein. Ohne zu zögern, betrete ich den Raum und sehe mich um. Eine Lobby. Zu erkennen an traditionellen Möbeln und einem antiken Schreibtisch, an dem eine Frau sitzt.
Links ist eine geschlossene Tür. Auf einem Messingschild daneben steht: Harlow Alston, Anwältin. Zur Rechten befindet sich noch eine geschlossene Tür. Das Messingschild verrät, dass es die Toilette ist. Links davon führt ein Flur zu den Hinterzimmern dieser Etage, die jedoch im Dunkeln liegen und vielleicht gar nicht benutzt werden.
Ich bin erleichtert, dass sonst niemand da zu sein scheint. Da ich so sauer bin, weil mich diese Anwältin nicht in Ruhe lässt und mir auch noch droht, fürchte ich, dass ich mein Temperament wahrscheinlich nicht im Griff haben werde. Aus PR-Gründen will das Management der Titans sicher nicht, dass ich mich in der Öffentlichkeit schlecht benehme.
Die Sekretärin, die freundlich wirkt und leicht als eine Fußball-Mutti durchgehen würde, lächelt mich an. „Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich möchte Harlow Alston sprechen“, sage ich kurz angebunden.
„Natürlich.“ Sie lächelt erneut und gibt etwas in den Computer ein. „Morgen um vierzehn Uhr ist ein Termin frei. Worum geht es?“
Ich stütze mich mit den Händen auf den Schreibtisch auf und beuge mich vor, um bedrohlicher zu wirken. „Ich will sie sofort sprechen.“
Die Frau ist kein bisschen eingeschüchtert. Sie hebt das Kinn und verengt die Augen. „Sie hat momentan keine Zeit. Der nächste freie Termin ist …“
Ich deute auf die linke Tür. „Ist das ihr Büro?“
Sie presst die Lippen aufeinander und weigert sich, mir zu helfen, die Anwältin in ihre Schranken zu weisen.
Ich blicke zwischen der Sekretärin und der Tür hin und her. „Ist sie da drin?“
Jetzt sieht die Sekretärin alarmiert aus. Ich könnte ja ein Durchgeknallter sein, der ihrer Chefin an den Kragen will.
Ich warte nicht auf eine Antwort und stürme zu der Tür.
Die Sekretärin ist lebhafter, als ich dachte, und anscheinend kein bisschen schwach. Sie steht auf und beeilt sich, vor mir an der Tür zu sein.
„Sir“, sagt sie autoritär und strafend. „Sie ist beschäftigt und kann Sie jetzt nicht empfangen. Es ist unverschämt von Ihnen, ohne Termin einfach eindringen zu wollen.“
Nervös schaut sie auf meine Hände. Ich verschränke sie vor der Brust, um zu zeigen, dass ich nicht vorhabe, handgreiflich zu werden. Aber ich kann genauso stur sein wie sie.
Ich schaue auf die kleine Frau mit dem kurzen, braunen Bob und den dunkelbraunen Augen hinab. „Unverschämt, ja? Unverschämt ist, dass diese Frau mich bedrängt, mich um den Nachlass meines Bruders zu kümmern, mit dem ich nichts zu tun haben will. Diesmal wird sie es sich von mir persönlich anhören müssen, damit sie mich endlich in Ruhe lässt.“
Ihr Blick wird sanfter und sie neigt den Kopf leicht zur Seite. „Mr. Dumelin?“
Ich nicke.
Und schon ist das Mitgefühl verschwunden, das ich gesehen haben will, als sie verstanden hat, dass ich Brooks’ Bruder bin. Ihr Ausdruck ist rein geschäftsmäßig. „Es ist wichtig, dass sie mit Ms. Alston reden. Ich kann Ihnen für morgen einen Termin geben oder wir machen eine Telefonkonferenz aus. Oder Sie warten hier, ob sie nachher etwas Zeit für Sie hat. Aber momentan schreibt sie einen sehr wichtigen Bericht, der fertig werden muss …“
Ich habe genug von den Ausreden. Sie hat mich bedrängt und jetzt bin ich hier.
Ich gehe an der Sekretärin vorbei, nehme die Klinke in die Hand und öffne die Tür, bevor man mich aufhalten kann. Ich betrete den Raum und sehe eine schöne Rothaarige hinter dem Schreibtisch sitzen. Das ist nicht die Anwältin, die ich auf der Webseite gesehen habe.
Ich gehe noch einen Schritt weiter hinein und die Frau hebt den Kopf. Grüne Augen und ein verärgerter Blick über mein Eindringen nehmen mich zur Kenntnis.
Bei meinem dritten Schritt spüre ich hinter mir die Sekretärin. Und dann höre ich ein tiefes, böses Knurren von hinter dem Schreibtisch. Verblüfft sehe ich ein riesiges, schwarzes Biest auf mich zukommen.
Himmel, dieser Hund muss mindestens sechzig Kilo wiegen und nur aus Muskeln bestehen. Er hat dichtes, schwarzes Fell, eine weiße Brust, eine braune Schnauze und eine braune Augenbrauenpartie. Braune Beine mit weißen Strümpfen. Ich glaube, ich kenne die Rasse, aber ich bin noch zu überrascht, dass er mich anknurrt. Nicht nur warnend, sondern er zeigt mir auch die Zähne, was heißt, dass er mich sofort attackiert, wenn ich näher komme.
Ich erstarre. Mir fällt ein, dass man nicht vor Bären davonrennen soll, weil sie einen sonst für die nächste Mahlzeit halten. Gilt das auch für Hunde? Ich habe keine Erfahrungen mit Hunden. Meine Mutter verabscheute alle Tiere mit Fell, weil sie ihr peinlich sauberes Haus verschmutzen könnten.
Langsam kommt der Hund näher.
„Ähm … könnten Sie bitte Ihren Hund zurückrufen, Lady?“
Die Frau lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und schlägt die Beine übereinander. Mit den Fingern trommelt sie auf ihren Armlehnen und wirkt amüsiert. „Ich weiß nicht so recht … haben Sie einen guten Grund, ungebeten und ohne Termin hier reinzumarschieren?“
„Ich bin Stone Dumelin.“
„Ja. Ich erkenne Sie.“
„Sie wollten, dass ich herkomme, und da bin ich. Rufen Sie den verdammten Hund zurück.“
Sie denkt darüber nach, und ich weiß nicht, was sie tun wird. Doch dann sagt sie sanft seinen Namen. Odin.
Der Hund bleibt stehen. Er zeigt mir aber immer noch die Zähne. Wir starren uns gegenseitig an und mir bricht Schweiß im Nacken aus.
Aber dann schnippt sie mit den Fingern und ruft den Hund zurück. „Leg dich hin, Odin.“
Sofort dreht der Hund um und geht wieder an ihre Seite, was zeigt, wie gut er trainiert ist. Ich wette, wenn sie Fass! sagen würde, wäre ich ganz schnell Geschichte.
Der Hund bleibt für mich sichtbar neben ihrem Stuhl sitzen. Damit schickt er mir die klare Botschaft, dass er mich beobachtet.
Die Frau blickt an mir vorbei zur Sekretärin. „Schon gut, Bonita. Du kannst gehen und die Tür zumachen.“
„Soll ich Kaffee oder Tee servieren?“, fragt Bonita höflich.
Ich behalte den Hund im Auge.
„Nein, das ist nicht nötig. Das bieten wir nur unseren höflichen Kunden an.“
Ich schaue sie an und fühle mich unwohl in meiner Lage. Ich dachte, ich würde einfach hineingehen, sie dazu zwingen, ihr Vorhaben aufzugeben, und wieder gehen. Doch stattdessen sitzt die Anwältin gar nicht hinter diesem Schreibtisch, und um ein Haar hätte mir ihr Hund die Kehle herausgerissen.
„Ich möchte mit Harlow Alston sprechen. Können Sie mir sagen, wo sie ist, damit ich ihr kurz sagen kann, dass ich mit dem Nachlass meines Bruders nichts zu tun haben will?“
Die Rothaarige beugt sich vor und faltet die Hände auf dem Schreibtisch. „Haben Sie das Schild an der Tür gesehen? Da steht Harlow Alston, oder?“
Ich rolle mit den Augen. „Natürlich. Aber ich habe mir die Webseite angesehen und die Frau ist ungefähr dreißig Jahre älter als Sie und hat graue Haare.“
Die Frau nickt und erhebt sich. „Das ist meine Tante Hayley Alston. Sie hat ihre Kanzlei auf der anderen Seite des Flusses in der Innenstadt. Ich bin Harlow, die Anwältin, die Sie angeschrieben hat.“
Das wirft mich aus der Bahn.
Ich kam her, fest entschlossen, diese Frau zurechtzuweisen, hatte dabei aber vor Augen, mich mit einer alten Anwältin anzulegen, die aussieht, als ob sie Stahlnägel frühstücken würde. Ich bin nicht auf eine umwerfend schöne Frau vorbereitet, die höchstens Ende zwanzig sein kann und eher auf einen Modellaufsteg passt als hinter einen Anwaltsschreibtisch.
Außerdem ist sie nicht wie eine Anwältin angezogen. Sie trägt Jeans, einen farbenfrohen Pullover und einen Pferdeschwanz. Auf keinen Fall sieht sie aus wie die bissige Prozessanwältin, die ich mir vorgestellt habe. Vielmehr sieht sie aus wie die Frauen, die ich in Bars aufgabele und, wenn ich Glück habe, mit nach Hause nehme.
Sie streckt ihre Hand über dem Schreibtisch aus. „Schön, Sie endlich kennenzulernen, Mr. Dumelin. Darf ich Sie Stone nennen?“
Ich gebe ihr weder die Hand noch die Zustimmung, mich beim Vornamen zu nennen. Aber ich trete näher an den Schreibtisch heran, um meine Körpergröße sprechen zu lassen. „Ich habe nicht vor, lange hierzubleiben. Ich möchte nur wissen, was ich tun soll, damit Sie mich in Ruhe lassen. Wenn ich eine Verzichtserklärung unterschreiben soll, dann tue ich das. Ich will nichts mit seinem Nachlass zu tun haben. Und schon gar nicht, dass Sie mich noch einmal kontaktieren.“
Harlow scheint weder gekränkt noch verärgert über meine Ansage zu sein. Wenn überhaupt, wirkt sie eher besorgt. Aber das ergibt keinen Sinn, also vergesse ich den Gedanken wieder.
„Ich wünschte, ich könnte das tun, Stone. Aber ich habe Ihrem Bruder versprochen …“
„Sie meinen, Sie wurden dafür bezahlt, seinen letzten Willen auszuführen“, sage ich ungehalten.
Sie atmet tief durch, um ihre Fassung zu behalten. „Es gibt Dinge, die wir für seinen Nachlass tun müssen …“
„An dem ich nicht interessiert bin“, knurre ich. „Sie hören mir nicht zu.“
„Ich höre Sie laut und deutlich.“ Sie spricht angespannt und in ihren grünen Augen lodert Feuer. „Aber Sie sind fest entschlossen, sich in dieser Sache wie ein Idiot zu benehmen. Ihr Bruder hat sich alle Mühe gegeben …“
„Mein Bruder hat sich meinetwegen nie alle Mühe gegeben“, sage ich aufgebracht, gehe rückwärts und stolpere über einen Besucherstuhl. Das macht mich noch rasender. Ich schlage danach und er kippt um. Man hört ein leises Knacken, wahrscheinlich von einem Stuhlbein, aber es ist mir scheißegal.
Der Hund knurrt wieder, bewegt sich aber nicht.
Ich rechne damit, dass mein Ausbruch ihre Aufmerksamkeit fesselt, aber sie betrachtet nur den Stuhl. Ich schaue hin und sehe, dass er zarte Beine hat, Brokatstoff auf dem Sitz und Schnitzereien und Intarsien auf der Rücklehne. Überhaupt nicht mein Geschmack. Das eine Bein ist offensichtlich ganz oben abgebrochen. Ich habe keinerlei schlechtes Gewissen.
„Kontaktieren Sie mich nie wieder“, sage ich warnend. Misstrauisch sieht sie mich an. „Schicken Sie mir per E-Mail, was auch immer ich unterschreiben soll und was Sie von der Verpflichtung befreit, den Auftrag meines Bruders zu erfüllen. Ich werde es Ihnen sofort zurückschicken. Wenn Sie mich danach noch mal belästigen, werde ich Sie bei der Anwaltskammer, oder wer auch immer für Leute wie Sie zuständig ist, anzeigen.“
Das Misstrauen in ihren Augen ist verschwunden und sie sieht mich wütend an, sagt aber nichts. Resolut starre ich sie an und bestärke stumm meine Botschaft. Mit mir ist nicht zu spaßen. Als ich glaube, dass sie es verstanden hat, drehe ich mich zur Tür um und gehe an dem kaputten Stuhl vorbei. Ich sehe ihn an, aber nicht zu ihr. „Schicken Sie mir die Rechnung dafür. Ich bezahle sie gern.“
Ich stürme aus dem Büro, ohne zurückzublicken, und hoffentlich in ein Leben frei von Geistern und Dämonen.

Harlow

Als Stone Dumelin mein Büro verlässt und die Tür zuwirft, klopft mein Herz hektisch. Ich habe nichts anderes von dem Erlebnis erwartet. Während meiner Freundschaft mit Brooks habe ich viel über Stone erfahren und konnte mich für diese Konfrontation wappnen.
Deshalb gefiel Brooks nicht, dass er mich bitten musste, mich um alles zu kümmern. Deshalb machte er mich nur ungern zur Treuhänderin. Aber er wusste auch, dass ich alles tun würde, um seine Wünsche zu erfüllen.
Nicht nur Stone ist ein Problem in Sachen Nachlass, sondern auch sein Vater hat mich gestern kontaktiert und nach seinem Anteil am Erbe gefragt.
Ich weiß nicht, ob Stone seinem Vater gesagt hat, dass er mich kontaktieren soll, aber ich bezweifele es. Sie haben sich nicht gut verstanden, als Brooks starb. Das sah ich selbst bei der Beerdigung, als Stone versuchte, seine Mutter zu trösten, sie sich aber von ihm fort lehnte. Und als sein Vater ihn ignorierte, als er bei seiner Trauerrede durchscheinen ließ, dass es nur einen Sohn gibt, der eine Erwähnung wert ist.
Auch das überraschte mich nicht. Brooks hat mir erzählt, dass seine Familie so zersplittert war, dass es nichts gäbe, was sie wieder kitten könnte.
Das glaube ich ihm.
Es ergibt keinen Sinn, den Vater jetzt schon zurückzurufen. Erst muss ich Stone Brooks’ letzten Willen erklären. Danach rufe ich seinen Vater an und sage ihm, was ihm zusteht, jetzt noch nicht.
Ich gehe neben dem kaputten Stuhl in die Hocke. Das Bein ist komplett abgebrochen, und ich knirsche mit den Zähnen, weil Stone so blasiert damit umgegangen ist.
Schicken Sie mir die Rechnung, hat er gesagt.
Als ob man das Bein des Hepplewhite-Stuhls aus dem achtzehnten Jahrhundert durch irgendetwas ersetzen könnte. Der Stuhl gehört zu einem Set und ist nicht nur ein kleines Vermögen wert, sondern gehörte meiner Urgroßmutter. Das Set wurde liebevoll an die älteste Tochter der nächsten Generation weitervererbt. Vor zwei Jahren, als ich meine Kanzlei eröffnete, bekam ich es von meiner Mutter, die glaubte, dass ich es viel schöner fände als sie.
Stone eine Rechnung zu schicken, macht den Schaden nicht rückgängig.
„Der Mann war so angenehm wie ein in die Ecke gedrängtes Stachelschwein“, sagt Bonita an der Tür. Ich sehe zu ihr auf. Sie wringt die Hände. „Es tut mir leid, ich habe versucht, ihn aufzuhalten.“
„Schon gut“, versichere ich ihr, stehe auf und halte das Stuhlbein in der Hand. „Er ist genau, wie Brooks ihn beschrieben hat. Ich will nicht, dass du dich mit jemandem anlegst, der viel stärker ist als du.“
„Wenn ich doch nur die Zeit gehabt hätte, mein Pfefferspray aus der Tasche zu nehmen“, sinniert Bonita.
„Nein“, sage ich übertrieben schimpfend. „Wir wenden kein Pfefferspray bei unseren Klienten an.“
„Schade“, sagt sie und schnaubt lachend. Sie hält mir ihre Hand hin. „Gib mir das. Mal sehen, ob ich es mit Alleskleber reparieren kann.“
Ich öffne entsetzt den Mund und drücke das Stuhlbein an mich, statt es ihr zu geben.
„War nur Spaß.“ Sie lacht und kommt mit der Hand dennoch näher. „Ich werde es sicher aufbewahren, bis ich einen Antikladen gefunden habe, der weiß, wie man so etwas repariert.“
„Danke, Bonita.“ Mit den Fingern streiche ich über die Schnitzereien und reiche ihr das Stuhlbein. „Ich gehe mit Odin Gassi und hole mir einen gemischten Salat. Willst du auch etwas?“
„Nein, danke. Ich habe ein Sandwich dabei. Hast du die Beantwortung der Fragen der Gegenpartei im Fall Graves fertig?“
„Ich habe noch eine Stunde Zeit.“ Ich sollte mich sofort dransetzen, aber nach Stone Dumelin wird mir ein Spaziergang guttun. „Ich mache mich sofort an die Arbeit, wenn ich wieder da bin.“

***

Vier Stunden später bin ich immer noch nicht fertig mit den Fragen im Fall Graves. In drei Tagen ist Abgabetermin, also habe ich noch Zeit, aber es ist mir immer lieber, vor der Deadline fertig zu sein. Ich bin ein Planer. Und ich habe geplant, heute damit fertig zu werden. Morgen kann ich nicht weitermachen, weil ich fast den ganzen Tag bei Gericht sein werde, und übermorgen nehme ich an einer Weiterbildung teil. Ich muss heute fertig werden, damit ich am Abgabetag nicht noch damit herummachen und um Verlängerung bitten muss, was nicht mein Stil ist. Ich werde gern mit meinen Sachen fertig, um zu demonstrieren, dass ich gut vorbereitet bin und jederzeit bereit für den Kampf.
Dieser dumme Stone Dumelin bringt mich schon den ganzen Tag durcheinander. Nur fünf Minuten mit ihm, und ich kann nicht aufhören, mir um Brooks’ Nachlass Sorgen zu machen und darüber, ob Stone kooperieren wird.
Eigentlich frage ich mich das gar nicht. Ich weiß, dass er es nicht tun wird, und auch, dass er nie wieder einen Fuß in mein Büro setzen wird. Das macht es unendlich viel schwerer, Brooks’ Wünsche zu erfüllen. Ich kann nur versuchen, ihm schriftlich etwas mehr Informationen zu geben. Und bis ich das getan habe, werde ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren können.
Ich speichere den Entwurf der Fragen im Fall Graves ab und schließe die Datei. Dann öffne ich ein Dokument mit meinem Briefkopf und beginne einen Brief an Stone Dumelin. Ich schreibe darüber: Amtliche Zustellung mit Empfangsbestätigung.
Keine E-Mails mehr an Stone. Ich will, dass er einen Brief in den Händen hat und damit offiziell mitgeteilt bekommt, dass er geerbt hat. Was er dann damit anstellt, ist seine Sache, doch ich hoffe, seine Neugier wecken zu können, sodass noch ein Gespräch stattfinden wird.
Nach dem Betreff beginne ich wieder formell: Sehr geehrter Mr. Dumelin …
Weiter komme ich nicht. Ich lehne mich zurück und überlege, wie ich vorgehen soll. Jetzt ist ein bisschen Manipulation nötig, und dafür bin ich mir nicht zu schade. Besonders nachdem der Affe meinen Stuhl beschädigt hat.
Aber ich wusste, dass er ein Blödmann ist. Brooks hat mich zumindest davon überzeugt.
Ich betrachte den selig neben mir schlafenden Odin und frage mich, ob Stone auch gute Eigenschaften hat. Odin ist ein lieber Hund, aber seine Rasse kann auf Fremde skeptisch reagieren. Und statt neben mir zu bleiben, während er Stone abcheckte, ist er voll in den Verteidigungsmodus gegangen. Hat er etwas Böses gewittert? Brooks hat seinen Bruder zwar nicht gerade schmeichelhaft beschrieben, aber nicht so, dass ich Angst vor ihm haben müsste. Trotzdem hat Odin ihn angeknurrt und ging ihm entgegen. Das hat er noch nie getan. Nicht einmal, wenn wir im Park laufen gehen und mich fremde Männer anmachen wollen. Seine Größe genügt, dass die Kerle Abstand halten.
„Was hast du ihm angemerkt?“, frage ich Odin nachdenklich. Beim Ton meiner Stimme hebt Odin den Kopf. Neugierig sieht er mich an. „Ist er ein schlechter Mensch oder haben ihn die Umstände so widerspenstig gemacht?“
Er gibt einen Wuff-Laut von sich. Ich weiß nicht, ob er mir zustimmt oder genauso ratlos ist wie ich, doch er legt seinen Kopf wieder ab. Dann schließt er schlummernd die Augen und ich beginne zu schreiben.
Bei den ersten Sätzen eines Briefes muss ich immer grinsen. Mein Vater, der angesehene Robert Frederick Alston der III., Manager der Alston-Anwaltsgruppe, in der auch Tante Hayley arbeitet, wäre entsetzt, wenn er mich so arbeiten sehen würde. Drüben im Wolkenkratzer in Dads Chrome- und Stahlbüro gibt es Horden von Sekretärinnen, die nichts anderes tun, als die diktierte Korrespondenz der Anwälte zu tippen. Nicht mal die Jüngeren, die durchaus fähig sind, selbst zu schreiben, machen sich die Mühe, ihre Finger zu bewegen. Es wäre unter ihrem teuren Stundensatz, Zeit mit Tippen zu verschwenden, wenn sie stattdessen ihre Beratungen und Empfehlungen in Rechnung stellen können.
Das ist sicher ein Statussymbol, aber ich halte es für Verschwendung, weil ich schneller tippen kann als diktieren, und weil ich zwischendrin etwas am Text ändern kann. Das ist viel effizienter. Außerdem berechne ich einen weit niedrigeren Stundensatz als meine Familie auf der anderen Seite des Flusses.
Falls das anklagend klingt, meine ich es nicht so. Ich liebe sie alle und respektiere ihre Fähigkeiten. Sie führen eine der angesehensten Kanzleien im ganzen Staat. Und ebenso respektieren sie meinen Wunsch, eine eigene Kanzlei zu haben und mehr den Armen zu helfen als der reichen Elite. Natürlich werde ich bei Familienfeiern damit aufgezogen, und alle wissen, dass es kaum mehr als ein Hobby ist als eine Lebensgrundlage. Aber ich liebe meinen Beruf, weil ich völlig frei entscheiden kann, zu helfen, wem ich helfen will.
Zumindest, bis mir Stone Dumelin zugeschoben wurde.
Also, lieber Mr. Dumelin … hör zu, Arschloch.

Ich bedauere sehr, dass unser heutiges – wenn auch spontanes – Treffen nicht produktiver war. Leider scheinen Sie von einem tiefen Schmerz gesteuert zu sein und wissen nicht, wie Sie mit der Tatsache umgehen sollen, dass Ihr Bruder stets an Sie gedacht hat, auch wenn es sich nicht so angefühlt hat.

Ein kleiner Hinweis, dass ich viel mehr über seine Familie weiß, als er dachte. Er hat mir vorgeworfen, dass ich den Fall nur des Geldes wegen angenommen habe, aber da irrt er sich gewaltig. Ich habe ihn angenommen, weil ich Brooks geliebt habe.

Da wir nicht in der Lage sind, ein vernünftiges Gespräch zu führen, werde ich Ihnen auf diesem Wege ein paar Dinge sagen, die Sie bedenken sollten. Ich hoffe, dass Sie gewillt sein werden, zu kooperieren, aber sollten Sie dies nach diesem Brief immer noch nicht wollen, werde ich Ihnen helfen, sich von allen Verpflichtungen zu befreien.

Und dann zähle ich ihm die nackten Fakten auf, damit er gezwungen ist, zumindest irgendwie darauf zu reagieren.

Ihr Bruder hat mich beauftragt, nach seinem Tod seine Treuhänderin zu sein. Das bedeutet, dass ich seinen Nachlass seinen Wünschen entsprechend verwalte. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich dies ohne jegliche Bezahlung tue.
Sie sind nicht der einzige Erbe, aber bei Weitem derjenige mit dem Hauptanteil. Der beinhaltet nicht nur einen erheblichen Geldbetrag und Investments, sondern auch zwei Häuser hier in Pennsylvania.
Sollten Sie das Erbe Ihres Bruders ablehnen, hat er genau verfügt, welche Wohltätigkeitsorganisationen wie viel bekommen sollen. Ich erwähne das vor allem deswegen, weil Sie sagten, ich solle Ihren Vater kontaktieren, aber Brooks bestand darauf, dass Ihre Eltern nur das bekommen, was er speziell für sie bestimmt hat.
Außerdem hat Ihnen Ihr Bruder etwas Persönliches hinterlassen, das ich Ihnen persönlich aushändigen muss. Dafür können wir gern einen Termin in meinem Büro ausmachen oder wir treffen uns an einem Ort Ihrer Wahl. Dann können Sie entweder die Dokumente zur Annahme des Erbes unterschreiben oder die, um das Erbe an die Wohltätigkeitsorganisationen zu geben.
Sollten Sie sich weigern, etwas zu unterschreiben, sehe ich mich leider gezwungen, Sie per Gerichtsbeschluss dazu zu bewegen, was sehr unangenehm wäre und reine Zeitverschwendung. Bitte steigen Sie von Ihrem hohen Ross und tun Sie das Richtige.
Ich hoffe, dass Sie meine Sekretärin Bonita Hernandez anrufen und einen Termin ausmachen werden. Bitte kommen Sie nicht wieder unangemeldet mit der Erwartung, sofort empfangen zu werden. Und schon gar nicht in mein Büro, da ich Odin sonst erlauben werde, Sie zu fressen.
Außerdem werde ich Ihnen eine Rechnung für den beschädigten Stuhl schicken, aber leider ist ein Hepplewhite aus dem achtzehnten Jahrhundert, der von meiner Urgroßmutter an die jeweils älteste Tochter in der Familie weitervererbt wurde, unersetzbar. Doch Ihre Geste war zumindest rücksichtsvoll.

Beim letzten Satz grinse ich. Wenn der Mann auch nur den Hauch eines Gewissens hat, sollte das sitzen. Wenn nicht, ist er ein noch größeres Arschloch, als ich dachte. Aber egal. Ich will einfach nur, dass er sein Schicksal annimmt und die Sache hinter mich bringen.
Ich denke darüber nach, wie ich den Brief beenden soll, und entscheide mich, wieder formell zu werden.

Ich sehe Ihrer Entscheidung erwartungsvoll entgegen und verbleibe mit freundlichen Grüßen
Harlow Alston, Anwältin

Perfekt, wenn ich das mal sagen darf. Ich lese den Brief noch einmal durch, speichere ihn ab und leite ihn an Bonita weiter.
Dann gehe ich aus dem Büro in den Empfangsbereich, wo Bonita soeben den Brief auf ihrem Bildschirm hat.
„Ich weiß, dass es schon spät ist, aber könntest du den Brief bitte heute noch abschicken?“
„Kein Problem“, sagt sie und überfliegt den Text.
Ich schaue zu, wie sie ein paar Änderungen am Satzbau macht, ohne mich zu fragen. Sie kann viel besser formulieren als ich. Bei mir geht es um den Inhalt, und ihr Job ist es, das Ganze aufzuhübschen.
„Also, ich finde ja“, sagt Bonita und nimmt den Brief aus dem Drucker, „dass Stone Dumelin ein heißer Typ ist.“
Ich hebe die Augenbrauen. „Findest du wirklich?“
„Komm schon, Harlow“, sagt sie in dem Wissen, dass ich nur so ahnungslos tue. „Er sieht Brooks sehr ähnlich, und wir wissen beide, dass Brooks auch heiß ausgesehen hat.“
Ich zucke mit den Schultern und lehne mich mit der Hüfte an ihren Schreibtisch. „Man kann der heißeste Typ seit Stephen Amell in Arrow sein, aber wenn man ein Arsch ist, ist man völlig unattraktiv.“
„Aber ist er wirklich ein Arsch oder leidet er und weiß nicht, wie er da rauskommen soll?“
„Hör schon auf“, sage ich lachend. Sie hat ein enorm großes Herz. Stets blickt sie bei den Klienten tiefer und sucht das innere Trauma, das für deren Verhalten verantwortlich sein muss. Sie verzeiht ihnen sofort und sorgt für eine Art Pflegefamilienatmosphäre, solange ich den Klienten vertrete. Das ist meistens süß, aber momentan habe ich kein Mitleid mit Stone. Ich trauere noch um Brooks, und mir gefällt nicht, dass Stone Brooks nicht mochte.
Das macht uns sogar zu Gegnern.
Bonita legt mir den Brief hin und reicht mir einen Stift. Ich unterschreibe.
„Mal sehen, ob ihn der Brief dazu bringt, sich zusammenzureißen und uns mit Respekt zu behandeln.“
Ich gehe in mein Büro, um am Fall Graves weiterzuarbeiten, und hoffe wirklich, dass der Brief Stone Feuer unter dem Hintern macht, besonders, weil er dann weiß, dass sein Bruder alles ihm hinterlassen hat anstatt seinen Eltern.

Stone

Am Aufzug hängt ein Schild, dass er außer Betrieb ist. Ich seufze. Im Fitnessstudio war Beintraining angesagt und ich habe mich voll ins Zeug gelegt. Sechs Etagen hochzugehen, ist zwar machbar, aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich den Aufzug nehmen.
Ich hänge mir die Sporttasche über die Schulter und renne nach oben, indem ich zwei Stufen auf einmal nehme, nur um zu beweisen, dass ich es kann.
Nicht, dass irgendwer zuschauen würde.
Ich hole meinen Schlüssel hervor und öffne die Tür, wobei ich etwas hin und her wackeln muss, um das rostige Schloss zu bewegen. Ich habe dem Vermieter schon Bescheid gesagt, dass er es austauschen oder reparieren soll, rechne aber nicht wirklich damit.
Ich trete ein und rieche etwas Köstliches. Tante Bethany summt ein Liedchen in der Küche. Morgen reist sie ab, nachdem sie erklärt hat, dass ich jetzt ohne sie zurechtkomme. Zwar bin ich ein erwachsener Mann und siebenundzwanzig Jahre alt, aber ich muss zugeben, dass es schön war, sie hierzuhaben.
Nicht nur, weil sie mich unterstützt, mich an eine neue Stadt zu gewöhnen, sondern auch, weil sie mir Vaters Anrufe vom Hals hält. Er hat begonnen, sie zu nerven, weil ich nicht zurückrufe. Sie ist schon oft als Vermittlerin eingesprungen, musste diese Rolle aber schon lange nicht mehr übernehmen, denn ich habe vor Brooks’ Tod Monate nicht mit ihm geredet. Am letzten Weihnachtsfest blieb ich in Cleveland in meinem Apartment. Mit einer Brünetten namens Cherry, die ich aber nicht in einer Bar oder einem Stripclub aufgegabelt hatte. Wir hatten uns im Fitnessstudio kennengelernt, was genauso ein Klischee ist. Sie war eine gute Ablenkung während der Feiertage, als keine Spiele stattfanden.
Natürlich bin ich von meinen Eltern an Weihnachten auch gar nicht eingeladen worden. Sie haben mich in keiner Weise beachtet. Kein Anruf. Keine Karte. Keine Geschenke.
Was in Ordnung ist. Ich mache so etwas auch nicht. Ich wusste, dass ich zu Hause nicht erwartet oder gewollt war. Wir waren an einen Punkt gekommen, an dem wir wie Fremde waren.
Brooks war anders. Zumindest haben wir zu Weihnachten miteinander kommuniziert. Er rief mich an und hinterließ eine Sprachnachricht. Er wünschte mir frohe Weihnachten und sagte, dass wir uns zu Hause sehen würden, falls ich dort hinkomme. Er wusste, dass ich nicht kommen würde, oder wollte es gar nicht wissen.
Ich rief nicht zurück, sondern antwortete mit einer Textnachricht, die ich so feierlich wie möglich gestaltete. „Danke für deinen Anruf. Ich bleibe über Weihnachten hier. Kalender ist voller Termine. Schön, deine Stimme zu hören.“
Brooks antwortete mit dem Daumen-hoch-Emoji.
Das war unsere gesamte Weihnachtskonversation.
An Silvester kontaktierten wir uns gar nicht.
Am 20. Februar ist er gestorben.
Ich habe seine letzte Sprachnachricht gespeichert und spiele sie manchmal ab, um seine Stimme zu hören. Auch, um mich selbst zu bestrafen, weil ich mir nicht mehr Mühe gegeben habe. Manchmal ist es aber nicht das schlechte Gewissen, das mich übermannt. Sondern Wut, weil er sich auch nicht mehr Mühe gegeben hat.
Ich stelle die Tasche auf der Couch ab und gehe in die Küche, die vom Wohnzimmer durch eine halbe Wand getrennt ist. Bethany will einen schweren Topf mit etwas Kochendem zum Spülbecken tragen. Schnell eile ich ihr zu Hilfe.
„Lass mich das machen“, sage ich und nehme ihr die Topflappen ab.
„Danke“, haucht sie und tritt zurück.
Ich gieße die Kartoffeln durch ein Sieb ab. „Was riecht hier so gut?“
„Hackbraten.“
Mein Magen knurrt. Das ist eins meiner Lieblingsgerichte, und Bethanys Hackbraten ist der Beste. Damit will sie mir sicher zum letzten Mal während ihres Besuchs richtige Hausmannskost bieten.
Ich stelle den leeren Topf wieder auf den Herd und Bethany holt Milch und Butter aus dem Kühlschrank.
Sie deutet zum Küchentisch. „Da ist Post für dich gekommen, für die ich unterschreiben musste.“
Stirnrunzelnd gehe ich hinüber, denn ich bekomme nicht viel Post. Ein bisschen was wird mir aus Cleveland nachgesendet, aber nur ab und zu. Ich erkenne, dass es ein Einschreiben mit Rückschein ist. Als ich Harlow Alston als Absender sehe, beiße ich die Zähne aufeinander. Der Umschlag ist dünn und kann nicht mehr als eine oder zwei Seiten enthalten.
Fuck, die Frau hat ein Tempo drauf. Erst gestern haben wir miteinander „gesprochen“, als ich sie beleidigt habe, ihr Hund mich beißen wollte und ich ihre Möbel demoliert habe.
Bestimmt ist das die Rechnung, die ich gern bezahle.
Ich öffne den Umschlag und ziehe keine Rechnung heraus, sondern einen zwei Seiten langen Brief von Ms. Alston.
Bethany macht Kartoffelbrei, also nehme ich mir die Zeit und lese den Brief durch.
Der Inhalt ist weitgehend sachlich geschrieben, aber mit genug Biss, dass ich merke, dass sie immer noch sauer auf mich ist. Ich lese die einzelnen Punkte und halte beim zweiten inne.
Ich bin der Haupterbe?
Ich schaue meine Tante an.
Sie hebt eine Augenbraue. „Was ist?“
„Die Anwältin schreibt, dass Brooks mir seinen Besitz vermacht hat“, sage ich ungläubig und lese den Punkt im Brief noch mal. Ich überfliege den Rest und gebe meiner Tante eine Zusammenfassung. „Er hat mir fast alles hinterlassen, inklusive zweier Häuser in Pennsylvania. Anscheinend bekommen meine Eltern auch etwas, aber das meiste geht an mich. Die Anwältin schreibt, es gibt noch persönliche Sachen, die er mir vermacht hat. Wenn ich das Erbe ablehne, geht alles an Wohltätigkeitsorganisationen.“
Bethany steht mit dem Kartoffelstampfer in der Hand da. Ein Teil, das sie auch gekauft haben muss, denn ich habe so etwas noch nie besessen. Erstaunt sagt sie: „Ich muss sagen, damit hätte ich nie gerechnet.“
„Dann geht es also nicht nur mir so.“ Damit spiele ich auf meine nicht mehr existierende Beziehung zu Brooks an, was dem Rest der Familie natürlich nicht entgangen ist.
„Dein Dad wird sich ärgern“, sagt sie und kümmert sich wieder um die Kartoffeln.
Ich schnaube. Mit Sicherheit glaubt er, dass er und Mom die Haupterben sind.
Himmel, das habe ich auch gedacht.
Wahrscheinlich wird er dann noch öfter anrufen und schreiben oder sogar verlangen, dass ich ihm etwas von dem Vermögen abgebe.
Ich lese weiter und komme an die Stelle, an der sie mir vorwirft, mehr als nur einen IKEA-Stuhl beschädigt zu haben. Ich verziehe das Gesicht. Ich habe keine Ahnung, was ein Hepplewhite ist, aber die Beschreibung, er sei aus dem achtzehnten Jahrhundert, lässt mich vermuten, dass ich wohl an mein Erspartes rangehen muss. Was nicht schlimm ist, denn ich habe mein Geld gut angelegt, als ich für die Eagles spielte. Und während der Zeit bei den Badgers habe ich genügsam gelebt, denn mein Einkommen war verschwindend gering im Vergleich zu dem in der höchsten Liga.
„Weißt du, was ein Hepplewhite ist?“, frage ich Bethany.
„Ein Möbelstück. Der Mann war Schreiner in London und hat auch noch andere Sachen gemacht. Das ist so etwas wie Chippendale, nehme ich an.“
Chippendale habe ich schon mal gehört. Die Sache wird mich ein Vermögen kosten.
„Warum fragst du?“
Seufzend setze ich mich auf einen Küchenstuhl. „Gestern bin ich doch mit schlechter Laune nach Hause gekommen, weißt du noch?“
„Klar.“ Sie grinst.
Sie grinst, weil ich ihr schnippisch auf etwas geantwortet habe und sie mir daraufhin die Meinung geigte. Da war eine Menge „Zeig mehr Respekt“ und „Lass deine Launen nicht an einem Familienmitglied aus, das zu dir steht“ und „Reiß dich am Riemen“. Sie faltete mich ordentlich zusammen. Den Rest des Abends war ich sorgsam darauf bedacht, nett zu sein. Wir sahen uns gemeinsam einen Film an, bevor sie in meinem Schlafzimmer ins Bett ging. Ich habe auf der Couch geschlafen, die furchtbar unbequem ist.
„Ich war so schlecht drauf, weil ich bei der Anwältin war.“
Bethany hört auf zu stampfen, und sieht mich an.
„Das lief nicht besonders gut. Ich habe sozusagen ihr Büro gestürmt. Sie hatte einen Hund bei sich, der mich zerfleischen wollte. Ich habe einen Stuhl umgeworfen und dem dabei ein Bein abgebrochen ist. Und das war anscheinend ein Hepplewhite.“
„Oh, wow“, haucht sie mitfühlend.
Mir ist nur nicht klar, ob sie für mich oder den Hepplewhite Mitgefühl hat. „Und angeblich ist es einer, den sie von ihrer Urgroßmutter bekam und der seit Generationen weitervererbt wird.“
„Autsch.“
„Ja, ganz genau.“ Ich überlege, ob ich das irgendwie wiedergutmachen kann. Aber das ist jetzt keine Priorität. Zuerst muss ich entscheiden, was ich mit Brooks’ Nachlass machen will. „Warum hat Brooks mir alles hinterlassen? Wir haben uns am Ende nicht mal nahegestanden, aber er unseren Eltern.“
„Bist du dir da so sicher?“ Ihr Ton klingt, als ob sie etwas wüsste, wovon ich keine Ahnung habe.
„Da wir uns nicht nahegestanden haben, vermute ich, dass er unseren Eltern nahestand. Denn die haben uns entzweit. Sie haben ihn vergöttert und als denjenigen in der Familie betrachtet, der auf dem Wasser gehen kann.“
Bethany lässt den Stampfer im Topf stecken und setzt sich neben mich an den Tisch. „Ich weiß nicht, was deine Eltern denken, denn sie erzählen mir nichts. Sie wissen, dass ich zu dir halte. Und mit Brooks habe ich über solche Dinge nicht gesprochen. Wir hatten eine lustige Tante-Neffe-Beziehung. Vielleicht hätte ich mich mehr bemühen sollen, aber ehrlich gesagt reichte es mir, für dich einfach nur da zu sein. Jedenfalls vermute ich, dass ihr beiden Brüder euch in Bezug auf eure Eltern näher wart als entzweit.“
„Ich verstehe gar nicht, wie es überhaupt so weit gekommen ist“, knurre ich verärgert. Gern würde ich meine Eltern und Brooks dafür verantwortlich machen, aber natürlich habe ich auch meinen Teil dazu beigetragen. Ich hätte ihn an Weihnachten auch anrufen können, statt nur eine Nachricht zu schicken. Vielleicht hätte ich mich wirklich mehr anstrengen müssen. Dann würden mich jetzt, nach seinem Tod, nicht so schwere Schuldgefühle belasten.
„Was hast du jetzt vor?“, fragt Bethany mit Blick auf den Brief auf dem Tisch.
Ich reibe mir übers Gesicht und sehe sie gequält an. „Ich habe keine Ahnung. Mein Ego sagt mir, sie soll alles verschenken. Aber ich würde gern wissen, was für persönliche Dinge er mir hinterlassen haben soll. Allerdings ist mein erster Schritt, herauszufinden, wie man diesen Stuhl reparieren kann.“
„Falls überhaupt möglich.“
„Ja“, knurre ich.
„Dann recherchiere im Internet.“ Sie steht auf. „Ich mache inzwischen das Abendessen fertig.“
„Erst muss ich einen Anruf machen.“
Bethany summt vor sich hin, während ich mein Handy hervorhole und eine E-Mail der Anwältin öffne. Über die verlinkte Telefonnummer rufe ich dort an.
„Kanzlei Harlow Alston, Bonita am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“
Ich erkenne die Stimme der Sekretärin. „Äh, also, Stone Dumelin hier.“ Ich werfe einen Blick auf Bethany. Konzentriert stampft sie die Kartoffeln, doch ich weiß, dass sie genau zuhört.
„Oh“, sagt Bonita übertrieben überrascht. „Der Möbelzerstörer und potenzielles Hundeopfer.“
Ich unterdrücke meine Rage, denn diese Reaktion habe ich wohl verdient. Zwar ist sie einem Klienten gegenüber absolut unangebracht, aber ich bezweifele, dass Harlow Alston die Frau deswegen entlassen würde.
„Ich möchte einen Termin mit Ms. Alston machen“, sage ich höflich, was mir schwerfällt, weil alles, was mit meinem Bruder zu tun hat, alte Wunden neu aufreißt.
„Natürlich“, sagt sie fröhlich und ich höre die Tastatur klappern. „Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind, Mr. Dumelin. Am besten sagen Sie mir, wann es Ihnen passen würde.“
So viel Rücksichtnahme habe ich nicht erwartet, da ich derartig frech an ihr vorbei und ins Büro ihrer Chefin gestürmt bin.
„Morgen habe ich ein Heimspiel, da geht es also nicht. Freitag ist vormittags ein Training, also wäre Freitagnachmittag gut, falls sie da Zeit hat.“
„Hm.“ Noch mehr Tastaturklappern. „Sie hätte um fünfzehn Uhr Zeit, falls das passt.“
„Das passt.“
„Ziehen Sie sich warm an.“
„Wie bitte?“ Ich blinzele überrascht.
„Es soll schneien und sie hat gern Spaß mit den Klienten und macht gern auf dem Bürgersteig Schnee-Engel.“
Ich nehme das Handy vom Ohr und schaue irritiert auf das Display. „Schnee-Engel?“, frage ich dann nach.
„War nur Spaß.“ Sie lacht über meine Ratlosigkeit. „Aber sie möchte mit Ihnen zur Wohnung Ihres Bruders gehen, die nur ein paar Straßen entfernt ist, sodass man zu Fuß schneller dort ist. Mit anderen Worten: Ziehen Sie etwas an, womit Sie durch Schnee gehen können.“
„Äh, okay.“ Diese Frau gibt mir ein gruseliges Gefühl, als ob sie im nächsten Moment noch etwas Seltsameres verlangen wird. Aber dann fällt mir etwas Wichtigeres ein. „Der Stuhl!“
„Ach ja“, sagt sie besorgt. „Der arme Stuhl. Das Erbe der armen Harlow wurde zerstört.“
Ich verziehe das Gesicht und kann nicht sagen, ob sie diesen persönlichen Verlust nur übertrieben darstellt. „Ich möchte ihn reparieren lassen.“
„Wunderbar!“, ruft sie erfreut aus. „Dann rufe ich Mr. Hepplewhite an … Ach nein, der ist leider 1768 gestorben.“
„Jetzt hören Sie mal zu, Lady …“, knurre ich.
„Hourglass Restoration“, wirft sie dazwischen.
„Hourglass Restoration“, wiederhole ich. Das muss wohl die Firma sein, die solche Sachen macht.
„Ich habe das gestern recherchiert, nachdem Sie gegangen waren.“
Das bedeutet wohl, dass sie die Reparatur in ihren fähigen Händen hat und ich mir von ihr nur die Rechnung schicken lassen muss. Mein schlechtes Gewissen hat zwar nie zugelassen, dass ich auf meinen Bruder zugehe, aber jetzt habe ich das Gefühl, etwas mehr tun zu müssen, als nur für die Reparatur des Hepplewhites zu bezahlen.
„Dann nehme ich den Stuhl am Freitag mit und lasse ihn reparieren.“
Die Frau scheint geschockt, denn sie sagt nichts. Das Schweigen dauert so lange, dass ich nachfrage. „Sind Sie noch da?“
„Ja. Entschuldigung, ich musste meine Kinnlade vom Boden aufheben.“
Ich rolle mit den Augen. Anscheinend habe ich ihr inneres Sarkasmus-Monster geweckt, das sich vor mir nicht versteckt. „Dann bis Freitag“, sage ich.
„Ich kann es kaum erwarten.“ Ich kann mir ihr freudiges Gesicht vorstellen, während sie mich gnadenlos aufzieht. „Bis dahin werde ich an nichts anderes mehr denken können.“
Fast grinse ich.
Fast.
Stattdessen beende ich das Gespräch.

Harlow

Mein Blick fällt auf die Uhr am Rand meines Laptops. Fast drei. Ich formuliere gerade eine Beschwerde an einen Vermieter, der sich weigert, in seinen Apartments die Heizung zu reparieren. Das geht dann ans Gericht. Mit anderen Worten, der Vermieter soll seinen Arsch bewegen und den Mietern umgehend die Wohnungen heizen.
Drei der Mieterfamilien haben mich heute damit beauftragt, und seitdem arbeite ich an diesem Fall. Ich werde Bonita zum Gericht schicken, um den Fall einzureichen und eine Anhörung für Montag zu beantragen. Es ist furchtbar, dass ich bis dahin nichts tun kann, aber das Gericht hat an Wochenenden geschlossen.
Ich speichere die Anzeige und schicke sie zu Bonita, damit sie die nötigen Dokumente ausdruckt, die ich nachher schnell unterschreibe, wenn ich mich mit Stone auf den Weg zu Brooks’ Apartment mache. Egal, ob er sich dazu entscheidet, die Immobilien zu behalten oder nicht, werden diese die meiste Arbeit verursachen, und deshalb will ich damit beginnen.
Ich bücke mich und streichele Odins Rücken, während er ein Nickerchen macht. Er streckt die Beine aus, hebt den Kopf und leckt sich leicht über die Lefzen, was ich als Lächeln interpretiere.
„Du wirst heute ganz brav sein und nicht Mr. Dumelin fressen, okay?“
Er wedelt fröhlich mit dem Schwanz. Ich reibe seinen Schenkel und er lässt den Kopf wieder sinken.
Die Interkom-Anlage auf dem Schreibtisch piepst und ich betätige einen Knopf. Bonitas Stimme schallt aus dem Lautsprecher.
„Der Drei-Uhr-Termin, Mr. Dumelin, ist da.“
„Schick ihn bitte herein“, sage ich.
Ich erhebe mich vom Drehstuhl und ziehe meinen Pulli mit dem Norwegermuster zurecht, den ich über der engen Jeans trage. Da es heute schneien soll, trage ich außerdem Lammfellstiefel.
Die Tür geht auf und Stone Dumelin tritt ein. Bonita findet ihn heiß, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, das herauszufinden. Doch wenn ich ihn jetzt so ansehe, wie er gelassen hereinkommt, anstatt wütend reinzustürmen, erkenne ich die Ähnlichkeit mit Brooks. Das gleiche goldbraune Haar, wie von der Sonne gesträhnt, etwas zu lang und anscheinend absichtlich unordentlich. Jedenfalls haben sie die gleichen hellbraunen Augen und die Neigung, sich nicht täglich zu rasieren. Auf seinem Gesicht befindet sich ein Dreitagebart, der ihm verdammt gut steht, was aber wahrscheinlich keine Absicht ist. Er wirkt nicht wie ein eitler Mann. Ihn umgibt eine raue, maskuline Aura. Doch während Brooks stets ein Leuchten in den Augen hatte, wirken seine eher leer.
Ich gehe um den Schreibtisch herum und reiche ihm die Hand. „Ich freue mich, dass Sie wiedergekommen sind.“
Wir schütteln uns die Hände und sein Blick gleitet nach links. Odin hat sich erhoben und starrt ihn an. Er knurrt nicht, aber seine Ohren sind zurückgelegt und er strahlt eine leichte Feindseligkeit aus.
„Er tut Ihnen nichts.“ Mein Versuch, ihn zu beruhigen, beantwortet Stone mit einem skeptischen Blick.
Verdammt. Aus der Nähe betrachtet, hat er wirklich schöne Augen. Heller als die von Brooks, und seine Wimpern sind viel dichter.
„Setzen Sie sich.“ Ich deute auf die zwei Stühle, die Bonita aus dem Konferenzraum geholt hat. Ich weiß nicht, was sie mit dem Hepplewhite gemacht hat, aber sie sagte, dass sie die beste Werkstatt zur Reparatur suchen wird.
Stone wirft einen Blick auf die Stühle und sieht mich dann entschuldigend an. „Ich wollte Ihren Stuhl nicht kaputt machen. Ich habe mit Ihrer Sekretärin besprochen, dass ich ihn heute mitnehmen werde. Ich habe schon eine gute Schreinerei zur Restauration gefunden.“
Überrascht blinzele ich. Bonita hat kein Wort davon erwähnt, und es ist weit mehr, als ich von ihm erwartet hätte. Ehrlich gesagt habe ich nicht einmal eine Entschuldigung erwartet. Zwar glaube ich nicht, dass Stone generell ein Arsch ist, aber was auch immer sein Trauma ist, er geht sehr schlecht damit um. Ich entscheide mich, gnädig zu sein.
„Vielen Dank“, antworte ich und setze mich wieder hinter meinen Schreibtisch. Odin legt sich neben mich und behält Stone im Auge. Noch nie hat er sich so benommen. Das kann nur damit zu tun haben, dass er sich Stones aggressives Verhalten gemerkt hat.
Stone setzt sich auf einen Stuhl und schaut Odin mit Vorsicht an.
Bereit, das Meeting zu beginnen, reiche ich ihm die vorbereiteten Papiere, bestehend aus dem gesamten Erbe, dem Testament und der Liste aller Immobilien. Stone beugt sich vor und nimmt sie entgegen.
„Am besten gehen wir gemeinsam alles durch und ich erkläre es dabei.“ Ich greife nach meinen Kopien der Papiere, um die Beamtensprache in normal verständliche zu übersetzen.
„Bitte nicht“, sagt Stone und legt die Papiere auf seinen Schoß. „Können Sie mir nicht einfach eine kurze Zusammenfassung geben?“
„Äh, okay“, erwidere ich unsicher. Eigentlich kann es mir egal sein, ob er alles versteht. Er ist nicht mein Klient. Das war nicht einmal Brooks. Ich bin nur eine Treuhänderin und als solche muss ich nichts interpretieren oder raten. Also fasse ich es für ihn zusammen. „Ihr Bruder hat alles in einen Treuhandfonds gegeben, damit kein Nachlassverwalter gerichtlich bestimmt werden muss. Der beinhaltet nicht nur Immobilien, sondern auch Lebensversicherungen, Konten und Sparkonten sowie seine Rentenversicherung. Der Gesamtwert, inklusive des Marktwertes seiner Immobilien, beträgt fast zwölf Millionen Dollar. Er hat Sie zum Haupterben ernannt und Ihre Eltern im Testament separat bedacht.“
„Und womit?“, fragt er nach.
„Er möchte, dass sie einmalig 500.000 Dollar zur freien Verfügung bekommen und jedes Jahr an ihren Geburtstagen 1000 Dollar bis zu ihrem Tod. Der Rest des Vermögens geht an Sie. Es sind mehr als genug flüssige Mittel vorhanden, um diese Überweisung zu tätigen, sobald das Geld auf Ihrem Konto ist.“
Stone runzelt die Stirn und legt einen Ellbogen auf die Armlehne des Stuhls. Nachdenklich reibt er sich das Kinn und blickt zum Fenster. Dann sieht er mich an. „Bei seinem großen Vermögen bekommen meine Eltern nicht viel. Es klingt überhaupt nicht nach Brooks, sie dermaßen außen vor zu lassen.“
„Bei allem Respekt“, sage ich sanft, „aber doch, das klingt genau nach Ihrem Bruder.“
Stone zieht die Augenbrauen zusammen. „Bei allem Respekt, woher wollen Sie das wissen? Sie sind doch nur seine Anwältin.“
„Ich bin nicht seine Anwältin.“ Ich lege ein Bein über das andere und streichele Odins Hals neben mir. „Er hat mich nur um den persönlichen Gefallen gebeten, seine Treuhänderin zu sein. Meine Aufgabe ist nur, alles zu regeln.“
„Das ist genau das, was ein Anwalt tut.“
„Ja, manche. Aber in diesem Fall hat Brooks mich außerhalb meiner Eigenschaft als Anwältin darum gebeten. Dafür muss man kein Anwalt sein. Ehrlich gesagt ist das Ganze eine Menge unangenehme Arbeit, besonders, wenn man es mit gerissenen Angehörigen zu tun bekommt. Aber ich hätte ihm den Gefallen nie abgeschlagen.“
Eine Welle der Trauer überrollt mich. Ich habe Brooks geliebt, er war einer meiner besten Freunde, und nie hätte ich diese Aufgabe abgelehnt, auch wenn er nicht den Mut gefunden hat, mich zu Lebzeiten darum zu bitten.
„Im Klartext bedeutet das also, mein Bruder hat mir alles hinterlassen, mit Ausnahme von 500.000 Dollar und einem jährlichen Betrag zum Geburtstag für meine Eltern.“
„Korrekt.“
„Sie haben geschrieben, dass er mir noch etwas Persönliches hinterlassen hat, das Sie mir geben sollen.“ Das klingt besorgt, als ob es sich dabei um eine giftige Schlange handeln könnte.
Ich nicke. „Am besten gehen wir in seine Wohnung, wo sich seine persönlichen Sachen befinden. Ich muss Ihnen das Objekt auch zeigen, damit Sie entscheiden können, ob Sie dort wohnen oder es verkaufen möchten.“
„Ich will dort nicht wohnen.“
Seine Ablehnung kommt zu schnell, als dass man sie ernst nehmen könnte, aber ich fange keine Diskussion an. Er soll seine eigenen Entscheidungen treffen. Ab jetzt habe ich Brooks’ Wunsch ziemlich komplett erfüllt. Besser gesagt, sobald wir in seiner Wohnung sind. Was Stone dann damit macht, ist seine Sache.
„Bereit für einen Spaziergang?“ Ich erhebe mich. „Die Wohnung ist ungefähr drei Blocks von hier entfernt.“
Stone nickt und steht auf. „Bonita hat mir gesagt, dass wir dorthin laufen werden.“
„Ich gehe gern durch den Schnee. Genau wie Odin.“
Ich nehme das Halsband und die Leine vom Haken an der Wand, und Odin tanzt erfreut um mich herum, da er weiß, dass ein Spaziergang naht.
„Was ist das für eine Hunderasse?“, fragt Stone mürrisch.
Er hat Odins Verachtung für ihn noch nicht vergessen.
„Ein Berner Sennenhund. Wir hatten immer solche in der Familie, und Odin ist der erste, der mir allein gehört. Er ist drei Jahre alt.“ Ich lege Odin das Halsband um und knipse die Leine an, drehe mich zu Stone um und halte meinen Hund direkt neben mir.
„Sind die alle so bösartig?“ Stone blickt Odin skeptisch an.
„Er ist ganz und gar nicht bösartig und die Rasse allgemein nicht. Er ist ein liebevoller Riese.“
„Mit großen Reißzähnen und tiefem Knurren.“
„Nur Dummköpfen gegenüber, die einfach in sein Reich eindringen.“
Ich bekomme ein abweisendes Schnauben zu hören. Stone tritt zurück und überlässt mir den Vortritt aus dem Büro. Eine klare Botschaft, den Hund nicht im Rücken haben zu wollen, da er weder mir noch Odin traut. Das ist verständlich.
Am Empfang halte ich bei Bonita an, um die Gerichtspapiere gegen den Vermieter zu unterschreiben. Gehorsam setzt sich Odin so lange neben mich. Dann schiebe ich Bonita die Papiere zu und sie reicht mir die Schlüssel zu Brooks’ Apartment. Wir haben sie in unserem kleinen eingebauten Tresor hinter Bonita aufbewahrt.
Stone hat seine Jacke erst gar nicht abgelegt. Ich ziehe meinen dicken Parka an und Handschuhe.
Draußen geht Odin auf meine linke Seite und Stone auf meine rechte. Der Schneefall hat sich verringert, kommt aber immer noch herunter und der Bürgersteig ist komplett bedeckt. Es geht kaum Wind und der Himmel ist grau bewölkt. Wie von einem Gebirgshund zu erwarten, ist Odin voll in seinem Element. Würde ich ihn lassen, würde er stundenlang draußen im Schnee liegen bleiben. Brav läuft er neben mir her und streift mit der Nase durch den Schnee am Boden. Ab und zu stoppt er, um an einen Mülleimer zu pinkeln, aber wir halten ein gutes Tempo ein, während wir uns in westliche Richtung von meinem Büro entfernen.
„Das ist eine nette Gegend von Pittsburgh“, sagt Stone spontan.
„Das ist Allegheny West.“ Wir gehen weiter. Es sind nicht viele Menschen zu Fuß unterwegs, aber der Verkehr ist recht heftig. „Ende des neunzehnten Jahrhunderts war dies die Hauptwohngegend der reichen Elite. Zwischen den beiden Weltkriegen verwahrloste sie ziemlich, aber vor fünfzig Jahren begann man mit einem riesigen Restaurationsprojekt. Ich liebe die viktorianische Architektur.“
Stone antwortet nichts und schweigend bringen wir drei Blocks hinter uns und dann noch einen halben bis zu Brooks’ Apartment.
„Das sieht modern aus“, sagt Stone und betrachtet das Gebäude.
„Ja, definitiv nicht viktorianisch. Es ist ein ausgebautes Lagerhaus.“ Ich warte, bis er sich das rote Backsteingebäude mit den schwarzen Rahmen um die Fenster angesehen hat. „Ein kleineres Lagerhaus, das zu fünf Luxuseigentumswohnungen umgebaut wurde. Ebenerdig sind Doppelgaragen für jede Wohnung und in den beiden anderen Stockwerken befinden sich die Apartments. Alle haben einen Balkon vor dem Wohnzimmer. Wenn man sich mit den Nachbarn gut versteht, ist es schön, draußen zu sitzen und morgens einen Kaffee zu trinken oder abends einen Cocktail. Es gehört auch eine Terrasse oben auf dem Dach zu der Wohnung. Auf dieser Seite des Hauses sind drei Wohnungen und zwei größere auf der anderen Seite.“ Ich führe Stone in die Lobby, die nichts weiter ist als ein Eingangsbereich mit Parkettboden und den Briefkästen. Eine Treppe führt zu den Wohnungen hoch und es gibt einen ebenfalls modernisierten Lastenaufzug.
„Der Wohnungsschlüssel ist gleichzeitig auch der für den Haupteingang“, erkläre ich Stone.
Ich gehe zur Treppe und Odin läuft neben mir her.
„Sie nehmen den Hund einfach mit in Brooks’ Wohnung?“
„Odin war schon oft hier und Ihr Bruder hatte kein Problem damit.“
„Aber ich vielleicht.“
„Okay.“ Ich zucke mit den Schultern. Ich muss nicht mit ihm hineingehen, daher werfe ich ihm die Schlüssel zu. „Wohnung vier. Der Code für die Alarmanlage ist 3985.“
Stone fängt die Schlüssel auf und sieht sie an. „Klar, dass er diese Zahl genommen hat.“
„Wie bitte?“
Er sieht auf und sein Blick ist aufgewühlt. „Das ist die Hausnummer unseres Elternhauses in Ithaca. 3985 Banks Street.“
Ich nicke. „Stimmt. Das war mir gar nicht aufgefallen.“
„Sie wissen, wo wir aufgewachsen sind?“
Lächelnd lehne ich mich an die Wand. Odin sitzt geduldig neben mir. „Ich war dort nach der Beerdigung.“
Stone fallen fast die Augen aus dem Kopf. „Sie waren dabei?“
„Ja, und danach war ich mit bei Ihren Eltern, um zu kondolieren.“
„Ich habe Sie gar nicht gesehen.“ Sein Ton ist übertrieben scharf.
„Ich glaube, an dem Tag haben Sie nicht viel gesehen. Es war für alle schwer, aber am schwersten für Sie und Ihre Eltern. Ich habe nicht erwartet, dass Sie sich an mich erinnern.“
Unsere Blicke treffen sich, aber ich kann seinen Ausdruck nicht lesen. Seine Haltung ist steif, und wenn ich seine Ausstrahlung erraten sollte, würde ich sagen, wütend. Doch er sagt nichts und geht an mir und Odin vorbei nach oben.
„Bringen Sie mir die Schlüssel wieder ins Büro“, rufe ich ihm nach, aber er antwortet nicht.

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